Wie haltet ihr’s mit der Verdrängung?
Es ist ein Abend, der das Publikum in ein emotionales Fegefeuer schickt: Im Saarbrücker Staatstheater hatte Wolfgang Borcherts Nachkriegszeit-Drama „Draußen vor der Tür“Premiere.
SAARBRÜCKEN Tonnenschwer liegen Moral und Pathos über diesem Drama, das ein 25-jähriger Kriegsheimkehrer 1946 schrieb – ein pazifistisches Manifest, ein Klagelied über soziale Kälte, eine Brandrede wider den Mainstream der Verdrängung im Nachkriegs-Deutschland. Ja danke auch, lieber Wolfgang Borchert, für „Draußen vor der Tür“, für diese zur Schul-Lektüre gewordenen politischen Correctness der Nachkriegszeit. Aber nein danke, wir haben genug Theaterabende durchlitten mit diesem psychologisch schütteren, holzschnittartigen Text, das Publikum von heute muss nicht mehr in den Beichtstuhl.
Aber erschüttern lassen dürfen wir uns von einem Regisseur wie Philipp Preuss, der Borcherts symbolträchtiges Stationendrama keineswegs durch dokumentarische Fotos der kriegerischen Jetzt-Zeit aktualisiert, sondern es als Zeit-entrückten inneren Bilder-Sturm zeigt. Ramallah Sara Aubrecht (Bühne) und Konny Keller ( Video/Livekamera) schaffen einen überwältigenden Echo-Raum dafür. Im vergangenen Jahr war Preuss zum Berliner Theatertreffen eingeladen, er zählt also zur Regie-Elite des Landes. Und jede einzelne Vorschuss-Lorbeere hatte er verdient, wie man am Ende der gefeierten Premiere am Samstag im Saarbrücker Großen Haus festhalten konnte. Wenn man sich denn berühren lassen wollte, erlebte man ein emotionales Purgatorium.
Denn der vom Krieg traumatisierte Beckmann will rein in unsere gute Stube, wir hören „draußen vor der Tür“seinen Schrei nach Teilhabe, nach Menschlichkeit und Hilfe. „Warum gibt denn keiner Antwort?!“, das schleudert Michi Wischniowski in der Schluss-Szene in die Runde seiner Mitspieler, die da sitzen wie ausgestopft. Sie tragen den adretten Look der Fifties: babyblaue Rüschenkleider und weiße Smoking-Jacken (Kostüme: Eva Karobath). Man kommt gerade von einem Ball.
Doch Beckmanns Frage richtet sich zweifellos an uns, die wir stumm in unseren Stühlen sitzen, verhaftet in der Rolle des Zuschauers – wie bei allen Kriegen, die in unserem Namen, im Namen der westlichen Freiheit, auch heute noch weltweit geführt werden. Und aus dem Spiegel, den diese Produktion uns vorhält, schaut uns eine armselige Fratze an: kollektive Betroffenheit.
Wie schafft Preuss das? Er hat den Spiegel zerbrochen. Nicht von ungefähr zitiert das Programmheft den bildenden Künstler Gerhard Richter: „Ein Bild stellt sich dar als das Unübersichtliche, Unlogische, Unsinnige.“Just nach diesem Prinzip funktioniert die gesamte Inszenierung, eine abstrakt komponierte Bilder- und Sprech-Performance. Das Instrument: Verzerrungen, Zersplitterung, Überblendung, Vielstimmigkeit, Multi-Perspektivismus. Die Rolle Beckmanns wird auch von anderen Darstellern gesprochen, gefilmt wird live (Konny Keller) oder ganz von oben, aus der DrohnenPerspektive. So entsteht eine verstörend surreale Atmosphäre, die uns hineinschleudert in einen Fiebertraum, denn Beckmann irrt hungrig und krank durch Hamburg – oder er halluziniert es.
Fiktive und allegorische Gestalten begegnen ihm: die Elbe ( Verena Bukal), die den Selbstmord-Kandidaten ausspuckt, der Ja-Sager (Ensemble), der ihm das Weiterleben schmackhaft machen will, der „Beerdigungsunternehmer“Tod, der sich an Soldatenleichen überfressen hat ( Jan Hutter), Gott, an den keiner mehr glaubt (Raimund Vitra). Aber auch beispielhafte Nachkriegs-Typen gehören zu Borcherts Parade. Ein Oberst (Fabian Gröver), der Verantwortung und Schuld leugnet, während er sich in Saarbrücken nahezu pervers an einer Torte ergötzt, eine Empathiefreie „Frau Kramer“in Kittelschürze ( Verena Bukal), ein Mädchen (Lea Ostrovskiy), das den Ruf der Liebe symbolisiert, und einen jovialen, von politisch-provokanter Kunst faselnden Theaterdirektor (Sébastien Jacobi), der dem „Anfänger“Beckmann den Job verweigert und ihm rät, erst mal zu „reifen“. Denn der hat ja bisher nur „gefroren, gehungert, geschossen“. Zynismus der brutalsten Sorte, er wird hier vorgetragen von einem sympathischen Kümmerer, denn Jacobi bringt individuelle Farbe in den „Typus“Heuchler. Und dass das alle anderen Ensemblemitglieder ebenfalls schaffen, verleiht der Inszenierung auch darstellerisch Glanz.
Es passiert nicht viel, im Prinzip läuft ein einziger großer BeckmannMonolog. Man erfährt erst nach und nach: Beckmanns Kind liegt unter Trümmern begraben, seine Frau hat einen anderen, die Eltern, überzeugte Nazis, danach von Mitläufern Geächtete, begingen Selbstmord. Und dann sind da noch die Dämonen, die Beckmann jagen, elf Kameraden, die er in den Tod führte und Millionen andere, die gefallen sind.
Ja, Borchert lädt seinem Helden ein Übermaß an Schmerz und Leid und Einsamkeit auf, daran verheben sich nicht wenige Hauptdarsteller. Im Staatstheater hat Wischniowski keine Scheu davor, alle Verzweiflungstöne eines Seelen-Wracks anzuschlagen. Dafür bekommt er vom Publikum viele, sehr viele Bravos. Mit Schlamm verschmiert ist er, wie eine Figur aus dem Erste-Weltkriegs-Filmdrama „Im Westen nichts Neues“, er hinkt, torkelt, krümmt sich, spielt sich schier um den Verstand, ist mitunter nur knapp entfernt vom expressionistischen O-Mensch!-Kitsch.
Man schaut einem darstellerischen Ritt auf der Rasierklinge zu, manchem mag's zu dicke sein. Doch wir werden Wischniowskis weit aufgerissene Augen nie mehr vergessen, vor allem nicht seine Interpretation des „Liedes von der Sau“– von der sauberen Soldatenfrau. Dafür verwandelt er sich in ein grausam grunzendes Monster. Ja, er ist Teil des Bestiariums, das Preuss in einem leeren Halbrund versammelt, das sich am Ende dreht, die Bühnentechnik bloß legt.
Die Spielfläche wird von bühnenhohen Seiden-Vorhängen geformt, rosarot sind sie, flattern lustig, doch heile Welt sieht anders aus. Denn sie öffnen und schließen sich in unvorhersehbaren Intervallen, über sie rollt eine chaotische, mitunter bedrohliche Bilderflut: gigantische Münder, Atom-Pilze, eine Tanzkapelle. Ein Puppen-Quartett sitzt ganz vorne im überbauten Orchestergraben, ein Titanic-Orchester: Es ist Entertainment- und Show-Time in Beckmanns Deutschland. Krass ist das, bitter – und bewegend.
Nächste Termine: 19.1, 25.1., 2.2., 20.2, Eintrittskarten gibt es unter:
Tel. (0681) 3092 486.