Wie die Ukraine noch zu retten ist
Deutschland tut viel, verweigert sich aber der Lieferung besonders wirksamer Marschflugkörper. Auch andere starke EU-Partner leisten erstaunlich wenig. Was beim Ukraine-Sondergipfel der EU in erster Linie zu beraten und zu beschließen ist.
BRÜSSEL/BERLIN Zwei Wörter reichen Bundeskanzler Olaf Scholz, um das Ausmaß westlicher Waffenhilfe für die Ukraine in ein Verhältnis zu dem zu setzen, was das Land dringend braucht, um dem russischen Angriffskrieg weiter standhalten zu können. „Zu gering“, meint der Kanzler – und ruft die EU-Partner auf, bis zum Sondergipfel am 1. Februar noch mal kräftig nachzulegen. Er nennt keine Ländernamen, aber beim Blick auf die Zusammenschau aller öffentlich verfügbaren Hilfszusagen seit Anfang 2022 kommt das Kieler Institut für Weltwirtschaft auf erstaunlich mickrige Werte auch bei wirtschaftlich starken Nationen.
Ganz oben auf dieser Liste der Minderleistungsträger stehen – abgesehen von den Totalausfällen wie Ungarn, Österreich oder Griechenland – Spanien mit 0,36 Milliarden US-Dollar an Rüstungsunterstützung, Frankreich mit 0,57 und Italien mit 0,73. Zum Vergleich: Deutschland kommt derweil auf über 18 Milliarden. Aber auch Großbritannien (6,9 Milliarden), Norwegen (3,8), Dänemark (3,7), Polen (3,2), die Niederlande (2,6) und Schweden (2,3) hängen sich sehr, sehr viel mehr rein bei der Unterstützung der Ukraine als die so genannte „Grande Nation“. Am meisten haben die USA mit Waffen im Wert von 46,3 Milliarden zugesagt. Selbst Kanada tat mit 2,2 Milliarden mehr als die meisten Europäer.
Wird das Engagement in Sachen Verteidigung der Ukraine jedoch an der Wirtschaftskraft gemessen, sollte Deutschland nicht zu laut auftreten. Dann sind 0,52 Prozent Anteil am Bruttoinlandsprodukt zwar ungleich mehr als die 0,06 Prozent von Frankreich. Doch mit über einem Prozent stemmen Norwegen (1,6), Litauen (1,4), Estland (1,3), Lettland (1,1) und Dänemark (1,0) ungleich mehr.
Gustav Gressel, der renommierte Militärexperte der ECFR-Denkfabrik, sieht denn auch voraus, dass das erste Halbjahr für die Ukraine „sehr schwierig“wird. Der Westen habe zwar Waffensysteme und Munition aus alten Warschauer-Paktund überschüssigen Nato-Beständen geliefert. Doch beide „Töpfe“seien längst leer. Inzwischen hätten die europäischen Staaten „zwei Jahre mit Debattieren verloren“. Die nun erfolgten oder kurz bevorstehenden Aufträge an die Industrie würden jetzt erst einmal zum Ausbau von Produktionsinfrastruktur führen – und erst 2026 zu einer verbesserten Verfügbarkeit all dessen, was die Ukraine zum Durchhalten brauche. Russland dagegen könne den derzeitigen Einsatz von Flugzeugen, Raketen, Drohnen und Artillerie noch nahtlos bis 2027 durchhalten.
Ausgerechnet die Vereinigten Staaten, die bisher die Hälfte der Militärhilfe geleistet haben, können wegen einer Blockade im Kongress nichts liefern und stehen vor einer ungewissen Zukunft nach den Präsidentschaftswahlen im November. Schon hat Präsident Joe Biden seine Sprache geändert. Aus „wir leisten, was immer nötig ist“, wurde „wir liefern, so lange wir können“. Europa könnte bald auf sich alleine gestellt sein.
Was also tun, wenn die Ukraine nicht dem Untergang geweiht sein und Putin nicht das Signal zur Eroberung und Unterwerfung weiterer Regionen und Länder bekommen soll? Der Unions-Außenexperte Roderich Kiesewetter hat ermittelt, dass es der Ukraine aktuell in sechs Kategorien an Qualität und Masse fehlt: Weitreichende Systeme wie Marschflugkörper und Kampfflugzeuge, Artillerie, insbesondere Munition, Minenräumgeräte sowie Kampf- und Schützenpanzer, Elektronische Kampfführung und Drohnen, Flugabwehr und schließlich Versorgungseinrichtungen wie medizinische Evakuierung und Stromerzeugung. „Sinnvoll wäre eine Leopard-2A4-Allianz“, leitet Kiesewetter aus dem Befund ab. Das Modell sei in den europäischen Staaten noch in hoher Stückzahl vorhanden, und die Fokussierung darauf würde auch die Logistik vereinfachen, die in Zeiten von Stellungs- und Abnutzungskriegen immer wichtiger werde.
Während Dänemark gerade mitteilen musste, dass sich die Lieferung der F-16-Kampfjets auf „unbestimmte Zeit“verschiebt, sieht Kiesewetter schnellen Ersatz. Die ohnehin zur Ausmusterung vorgesehene erste Tranche von rund 80 Eurofighter-Jets aus Deutschland und Großbritannien könnte der Ukraine kurzfristig zur Verfügung gestellt werden. Zudem plädiert der CDU-Politiker dafür, dass Deutschland dem Beispiel Frankreichs und Großbritanniens folgt und endlich Marschflugkörper liefert. Damit könnte die Ukraine eine wesentlich wirksamere Abwehr leisten, indem sie die russischen Nachschubwege unterbricht. „Wir müssen endlich aktiver, dynamischer und für Putin unberechenbarer liefern und etwaige Vorgaben aufgeben, mit westlichen Waffen keine russischen Gebiete zu treffen“, appelliert Kiesewetter.
„Wir müssen etwaige Vorgaben aufgeben, mit westlichen Waffen keine russischen Gebiete zu treffen“Roderich Kiesewetter CDU-Außenexperte