Angehörige von Gaza-Geiseln besuchen Bundespräsidenten
BERLIN Ihre Worte sind eindringlich: Sie sei hier als die leise Stimme ihres Onkels, sagt Efrat Machikawa im Schloss Bellevue. Ihr Onkel heißt Gadi Moses. Er ist am 7. Oktober von der Hamas aus Israel nach Gaza verschleppt worden. Im März ist sein 80. Geburtstag. Seine Nichte hat eine Sanduhr mitgebracht, um deutlich zu machen, dass nach mehr als 100 Tagen in Geiselhaft die Zeit verrinnt. „Wir haben keine Zeit mehr für Worte“, sagt sie. Unter den Umständen ihrer Gefangenschaft in Gaza könnten die 136 Geiseln nicht überleben, weder ein Mann im hohen Alter von 79 Jahren, noch ein 19-jähriger junger Mann. „Sie scheiden allmählich aus dem Leben.“
Machikawa ist mit ihrer Tochter Aya nach Deutschland gekommen, um hier unter anderem Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier zu treffen. Er empfängt die etwa 20 Familienangehörigen von Geiseln, die einen deutschen Hintergrund haben, im großen Saal seines Amtssitzes. Er begrüßt sie alle nacheinander, hört sich ihre Geschichten an. „Ich wünschte, wir würden uns unter anderen Umständen treffen“, sagt er ihnen.
Es ist das dritte Mal seit dem Hamas-Massaker, dass der Bundespräsident Angehörige der Geiseln trifft. Bei dem Überfall auf Israel töteten die Extremisten 1200 Menschen und verschleppten rund 240 weitere in den Gazastreifen. Israel versucht seitdem mit Luftangriffen und einer Bodenoffensive, die militärische Infrastruktur der Hamas zu zerschlagen. Bereits im Oktober reiste eine Delegation aus Familien der Geiseln nach Deutschland und traf dabei Steinmeier. Im November reiste der Bundespräsident nach Israel, wo er erneut einigen der Angehörigen begegnete. Als Staatsoberhaupt ist er regelmäßig auch im Gespräch mit Katar. Das Golfemirat gilt als wichtiger Vermittler zwischen Israel und der Hamas. Gemeinsam mit den USA und Ägypten spielte das Land eine Schlüsselrolle bei der Vermittlung einer einwöchigen Feuerpause und der Freilassung von 105 von der Hamas verschleppten Geiseln Ende
November. Die Angehörigen hoffen nun, dass Steinmeier mehr Druck auf Katar ausüben kann, damit die Verhandlungen über die noch verschollenen Geiseln zu einem Ergebnis kommen.
Zum 100. Tag der Entführung haben auch in Israel Angehörige entschiedenere Bemühungen für deren Freilassung gefordert. Am Sonntagabend endete im Zentrum von Tel Aviv eine 24-stündige Demonstration, auf der zahlreiche Verwandte von Verschleppten sprachen. Die Ansprachen von freigelassenen Geiseln warfen ein Bild des Schreckens auf die Umstände, unter denen die Menschen festgehalten werden. Viele würden mit unversorgten Wunden in stickigen Tunnels ohne Sanitäranlagen tief in der Erde dahinvegetieren. Frauen seien sexuell missbraucht worden, ständige Todesangst begleite die Gefangenen der Terroristen. „Holt sie jetzt nach Hause!“, ist der Haupt-Slogan des
Forums der Geiselfamilien. In Berlin hebt die Delegation lobend hervor, dass Deutschland fest an der Seite Israels steht. Gleichzeitig hoffen die Angehörigen auf mehr internationale Unterstützung. Es seien schließlich gemeinsame Werte, die dort verteidigt würden, sagen sie. Sie haben Fotos ihrer Liebsten dabei oder Andenken wie eine Basketballmedaille. Auch Flyer und Anstecker, die an die Verschleppten erinnern, tragen sie mit sich.
Machikawa erzählt, dass ihr Onkel sein Leben lang Friedensaktivist war. Aber das habe ihm nichts genutzt. Als die Terroristen zu ihm gekommen seien, habe er versucht zu verhandeln, um die anderen zu schützen. „Er wusste nicht, dass sie sein Leben wollten“, sagt sie. Die Gräueltaten hätten all jene, die sich ihr ganzes Leben für Frieden in Nahost eingesetzt hätten, in eine moralische Krise gestürzt. „Ich fühle mich als moralischer Flüchtling“, sagt sie. Vor dem Terrorangriff habe sie an der Universität Vorlesungen zu kultureller Diplomatie gegeben. „Ich weiß nicht, was ich tun würde, wenn ich das wieder unterrichten müsste.“Die Weltgemeinschaft müsse die Krise in Israel als ihre Krise sehen. Es sei schließlich eine globale Bedrohung durch Extremisten, ein Krieg gegen Terror.
Der Vater des 19-jährigen Shay Levinson gehört ebenfalls zu den angereisten Angehörigen. Er erzählt, dass sein Sohn als Soldat nahe der Grenze zu Gaza unterwegs war, als sein Panzer angegriffen wurde. Zwei seiner Crewmitglieder seien getötet worden. Shay sei von seinen Freunden auch „Soldat der Hoffnung“genannt worden, beschreibt Cochav William Levinson seinen Sohn. Er habe es nicht bei Worten belassen, sondern Arabisch gelernt und in einem jüdisch-arabischen Volleyballteam gespielt. Stets habe er an eine Koexistenz mit den arabischen Nachbarn geglaubt. Bis heute gebe es jedoch keinerlei Nachricht von ihm. „Wir wollen ihn wieder zu Hause haben“, sagt Shays Vater.