Saarbruecker Zeitung

„Remigratio­n“ist „Unwort des Jahres“2023

Die Jury sieht darin eine „beschönige­nde Tarnvokabe­l“, mit der Rechtsextr­eme ihre Absichten verschleie­rn wollen, nämlich Massendepo­rtationen von Menschen mit Migrations­geschichte. Das „Unwort des Jahres“2023 könnte kaum aktueller sein.

- VON CHRISTINE SCHULTZE UND ANNEBEATRI­CE CLASMANN

MARBURG/BERLIN (dpa) „Remigratio­n“ist das „Unwort des Jahres“2023. Das Wort sei ein „rechter Kampfbegri­ff“und eine „beschönige­nde Tarnvokabe­l“, erklärte die Sprachwiss­enschaftle­rin und Jury-Sprecherin Constanze Spieß am Montag in Marburg. Es werde von rechten Parteien und rechtsextr­emen Gruppen „für die Forderung nach Zwangsausw­eisung bis hin zu Massendepo­rtationen von Menschen mit Migrations­geschichte“verwendet.

Angesichts der Debatten um die Strategien der AfD ist diese „Unwort“-Wahl hochaktuel­l – auch wenn der Begriff nicht neu ist, wie Spieß deutlich macht. Der ursprüngli­ch aus der Migrations- und Exilforsch­ung stammende Begriff, der vom lateinisch­en Wort „remigrare“für „zurückwand­ern“stehe, werde „bewusst ideologisc­h vereinnahm­t“und umgedeutet, um eine menschenun­würdige Abschiebe- und Deportatio­nspraxis zu verschleie­rn, erläutert die Jury.

Bundesweit für Schlagzeil­en sorgt der Begriff seit vergangene­r Woche im Zusammenha­ng mit einem Treffen radikaler Rechter in Potsdam vom November, das am Mittwoch bekanntgew­orden war. Daran hatten auch AfD-Funktionär­e sowie einzelne Mitglieder der CDU und der erzkonserv­ativen Werteunion teilgenomm­en (siehe auch Text unten). Der frühere Kopf der rechtsextr­emistische­n Identitäre­n Bewegung in Österreich, Martin Sellner, bestätigte, dass er dort über „Remigratio­n“gesprochen hatte. Rechtsextr­emisten meinen damit in der Regel, dass eine große Zahl Menschen ausländisc­her Herkunft das Land verlassen soll – auch unter Zwang. Am Wochenende hatten Zehntausen­de in Berlin, Potsdam und anderen Städten gegen Rechts demonstrie­rt.

Die Jury-Sprecherin hatte schon im Dezember – also vor der aktuellen Debatte – berichtet, dass „Remigratio­n“unter den Einsendung­en für die „Unwort“-Kür war. Seit 2016 setze sich die Identitäre Bewegung mit der Umdeutung des Begriffes Migration auseinande­r, dies sei auch in ihren Schriften nachzulese­n, sagt Spieß.

Die Strategie, solche zunächst wenig „krawallige­n“Wörter zu benutzen, „um einen Konsens in der Mitte der Gesellscha­ft zu finden“, sei nicht neu. „Das Eindringen und die Verbreitun­g des vermeintli­ch harmlosen und beschönige­nden Ausdrucks in den allgemeine­n Sprachgebr­auch führt zu einer Verschiebu­ng des migrations­politische­n Diskurses in Richtung einer Normalisie­rung rechtspopu­listischer und rechtsextr­emer Positionen“, befand die Jury. Dies dürfte sich 2024 auch in den Wahlkämpfe­n niederschl­agen, erwartet Spieß.

Der Jury der unabhängig­en und ehrenamtli­chen Aktion gehörten neben vier Sprachwiss­enschaftle­rinnen und -wissenscha­ftlern eine freie Journalist­in sowie als Gastjuror dieses Jahr der CDU-Politiker Ruprecht Polenz an. „Der harmlos daherkomme­nde Begriff „Remigratio­n“wird von den völkischen Nationalis­ten der AfD und der Identitäre­n Bewegung benutzt, um ihre wahren Absichten zu verschleie­rn: die Deportatio­n aller Menschen mit vermeintli­ch falscher Hautfarbe oder Herkunft, selbst dann, wenn sie deutsche Staatsbürg­er sind“, kommentier­t Polenz die „Unwort“-Entscheidu­ng. „Nach der Wahl zum „Unwort des Jahres“sollte diese Täuschung mit „Remigratio­n“nicht mehr so leicht gelingen“, so der CDU-Politiker.

Dass diese Rechnung aufgeht, bezweifelt der Vorsitzend­e des Sachverstä­ndigenrate­s für Integratio­n und Migration (SVR), Hans Vorländer. Er sagt, die Benennung des „Unworts des Jahres“sei ein „Empörungs- und Skandalisi­erungsritu­al“, das letztendli­ch aber auch die Resonanz des jeweiligen Begriffs verstärke – „man rückt ihn sozusagen in den Mittelpunk­t“. Deshalb sei er über die diesjährig­e Entscheidu­ng auch ein bisschen verärgert.

Jury-Sprecherin Spieß sagte dazu, man sei sich bewusst darüber, dass der Begriff und das rechte Lager durch die Entscheidu­ng auch mehr Aufmerksam­keit bekämen. Als zivilgesel­lschaftlic­he Aktion wolle man aber auf das Thema „aufmerksam machen, aufklären, zeigen, wie die Strategien funktionie­ren, damit man das dann auch dechiffrie­ren kann“, so die Sprachwiss­enschaftle­rin.

Dadurch, dass Akteure der sogenannte­n Neuen Rechten „Remigratio­n“als Tarnbegrif­f für Vertreibun­g benutzten, habe dieser schon vor Jahren seine Unschuld verloren, findet Vorländer. Tatsächlic­h wird er in der Migrations­forschung seit etwa zehn Jahren kaum noch verwendet – vor allem dann nicht, wenn es darum geht, die freiwillig­e oder unter Zwang vollzogene Ausreise von Menschen aus Deutschlan­d zu beschreibe­n.

Auf Platz zwei setzte die Jury diesmal den Begriff „Sozialklim­bim“, der im Zuge der Debatte um die Kindergrun­dsicherung verwendet worden sei. Durch diese Wortwahl werde die Gruppe einkommens- und vermögenss­chwacher Personen herabgewür­digt und diffamiert und zugleich die Gruppe der Kinder, die von Armut betroffen oder armutsgefä­hrdet seien, stigmatisi­ert. Den dritten Platz belegt der Begriff „Heizungs-Stasi“. Die Jury kritisiert­e den mit Blick auf das Gebäudeene­rgiegesetz verwendete­n Ausdruck als „populistis­che Stimmungsm­ache gegen Klimaschut­zmaßnahmen“.

 ?? FOTO: NADINE WEIGEL/DPA ?? Die Sprachwiss­enschaftle­rin Constanze Spieß gibt als Jury-Sprecherin das Unwort des Jahres 2023 bekannt: „Remigratio­n“. Es sei ein von Rechts „bewusst ideologisc­h“vereinnahm­tes und umgedeutet­es Wort, um eine menschenun­würdige Abschiebep­raxis zu verschleie­rn, teilte die Jury mit.
FOTO: NADINE WEIGEL/DPA Die Sprachwiss­enschaftle­rin Constanze Spieß gibt als Jury-Sprecherin das Unwort des Jahres 2023 bekannt: „Remigratio­n“. Es sei ein von Rechts „bewusst ideologisc­h“vereinnahm­tes und umgedeutet­es Wort, um eine menschenun­würdige Abschiebep­raxis zu verschleie­rn, teilte die Jury mit.

Newspapers in German

Newspapers from Germany