Sprache, Sprechen und Celans „Todesfuge“
Norbert Gutenberg ist eine prägende Figur des akademischen Lebens im Saarland. Der Sprechwissenschaftler und -erzieher ist unter anderem von Paul Celan fasziniert. Dem Autor und dessen „Todesfuge“hat er neuen Band gewidmet.
SAARBRÜCKEN Als ich den Plan fasse, eine prägende Figur des akademischen Lebens im Saarland zu porträtieren, klingelt das Telefon. Es ist einer dieser schönen Zufälle im Leben: Es meldet sich Norbert Gutenberg, der immer mal wieder in Berlin weilt. Wir verabreden uns für den übernächsten Tag. Gutenberg war von 1981 bis 2016 Leiter des Fachgebiets Sprechwissenschaft und Sprecherziehung. Unter anderem war der heute 72-Jährige für die Sprecherziehung der Lehramtsstudentinnen und -studenten an der Saar-Uni verantwortlich, hat aber auch Wirtschaftsbosse und Spitzenpolitiker gecoacht.
Aus diesem Netzwerk ergeben sich Möglichkeiten für ihn, die er für die Pflege literarischer Traditionen nutzt. 2021 hat er ein Forum für Paul Celan organisiert, das Bildende Kunst, Essay und Philologie zusammenführte. Die Saarbrücker Ausstellung „Celan Fünfzig – 50 Gedichte, 50 Bilder, 50 Lesungen“(Katalog bei: Naumann/Beck, Homburg) sollte keinen Kunstkommerz-Firlefanz fördern, sondern die Multiplikation ästhetischer Kommunikation. So bezeichnet Gutenberg unter anderem die kunstgerechte literarische Rede und hat dabei ein besonderes Augenmerk aufs Gedichtsprechen. Die landauf, landab gepflegte „Performance“von Gedichten, meist durch Schauspieler oder gleich durch die Autoren selbst versaubeutelt, ist dem Sprechprofi ein Gräuel. Dieses „Rezitheatern“, ein Begriff des TV-Rezitators Lutz Görner („Lyrik für alle“), mag Emotionen übertragen, sagt Gutenberg, gehe aber meist zulasten des Sinngehalts von Dichtung – das sei „eine Rezitation, bei der über die Tische gesprungen wird“.
Der Ästhetiker organisiert und poltert aber nicht nur gern, sondern führt auch vor, dass Rezitation wirklich ohne das auskommt, was der 2005 verstorbene Dichter Thomas Kling „Mätzchen“nannte. In Berlin lauschten der ganz und gar unprätentiösen Rezitation anlässlich von Gutenbergs Herausgabe „Celan und die Anderen“, einer eindrucksvollen Auffächerung aller naheliegenden Quellen und Motive des ShoahGedichts „Todesfuge“, nur 20 Personen. Das war Anfang September 2023. Dann kam der Überfall auf Israel am 7. Oktober … Gutenberg sieht den Häuserkampf der israelischen Armee gegen Hamas als „alternativlos“, im akademischen Milieu Deutschlands ist das keine Mehrheitsmeinung. Ich selbst ertappe mich bei dem Gedanken, dass die Solidarität mit jüdischem Leben in Deutschland doch mit dem Besuch einer derart symbolträchtigen Veranstaltung wie der Rezitation der „Todesfuge“begänne, und nicht damit, Solidarität per Unterschrift zu leisten.
Gutenberg, der sich mehr öffentliche Anteilnahme mit den von der Hamas massakrierten und verschleppten Israelis wünscht, möchte den Besuch von Lyrik-Rezitationen, die das Jüdischsein thematisieren, nicht als politische Pflicht verstanden wissen. Überhaupt sei doch die Frage: „Ist Celan Teil jüdischen Lebens? Der ist doch Weltliteratur!“
Solche Einsichten haben nicht wenig mit dem Lebensweg des 1951 in Völklingen Geborenen zu tun, dessen jüdische Großeltern bereits 1933 aus dem Saargebiet in die Champagne emigrierten; sein Großvater wurde 1942 deportiert und ermordet. Das Trauma saß so tief, dass Norbert Gutenbergs Vater, der sich vor den Nazihäschern verstecken konnte, seine jüdische Herkunft verschwieg, sodass der Sohn erst spät, eher beiläufig und zufällig, vom Jüdischsein des eigenen Vaters erfuhr. Gutenberg verbrachte eine von handfesten Diskriminierungen geprägte Kindheit, denn rund um die Völklinger Röntgenstraße war es tabu, Französisch zu sprechen, seine Vatersprache. Seit 20 Jahren hat der frankophile Saarländer seinen Zweitwohnsitz im Département Moselle, es war für ihn selbstverständlich, im „Sprachenrat Saar“die für Europa unverzichtbare Völkerfreundschaft voranzubringen. In jüngster Vergangenheit versuchte er, das Projekt einer bikulturellen Literaturinitiative mit auf den Weg zu bringen. Es droht gerade im tosenden Schweigen der saarländischen Kulturpolitik zu versinken.
Biografische Marksteine erklären auch das Interesse Gutenbergs für jiddische Literatur: Die 2005 begründete Vortragsreihe „Penmentschn/Federmenschen“im „Theater im Viertel“war allerdings fast immer nur mäßig besucht. Genauso wichtig wie Bekenntnisse deutscher Volksvertreter zum Existenzrecht Israels wären demnach von der Zivilgesellschaft gut besuchte Kulturveranstaltungen, die Jüdischsein in Deutschland verhandeln und erfahrbar machen. Wer sich über das verhaltene Publikumsinteresse im Berliner Literaturhaus Lettrétage wundert, sollte sich vor Augen halten, dass der Vorstellung von Gutenbergs „Todesfuge“-Anthologie in Saarbrückens Uni-Buchhandlung im Mai 2023 jegliche Zuhörerschaft fernblieb. Ignoranz tritt dabei als Wiederholungstäter auf. Schon die Zeitgenossen vergingen sich kollektiv an Celan, dessen Vortrag der „Todesfuge“im Jahr 1952 verlacht und verhöhnt wurde. Das Vorwort erinnert an diese und andere Widerlichkeiten. Noch entscheidender als die Quellenkunde ist aber, dass die Rezitation von „Todesfuge“und ihr motivisch nahestehenden Poemen via QR-Code abrufbar sind.
Vorformen dieser Poesie-Vermittlung war Gutenbergs Mitwirken am „Poesie-Telephon“; in den 1990er entwickelte sich daraus das „Gedicht des Monats“, das über die Homepage der Sprechwissenschaft abrufbar war. Die Saarbrücker Germanistik hat Gutenbergs Stelle als Fachgebietsleiter bisher nicht neu besetzt; vielleicht auch weil die Fachrichtung die angewandte Wissenschaft oft belächelt habe, wie Gutenberg findet? Nach Gutdünken zwischen „Kerngermanistik“und „Randgermanistik“unterschieden habe? Darüber könnte ein Mensch zum Zyniker werden.
Man darf sich Gutenberg aber nicht als grummeligen Alt-68er vorstellen, auch wenn es stimmt, dass er die Prägung eines Studiums an der Freien Universität nicht mehr loswird; die scharfzüngige und für Berlin typische Schnodderigkeit etwa. Gutenbergs Lebensweg steht exemplarisch für die Verheißungen der Theorie in den Siebzigern; für die Ernüchterungen im Zeichen der Ideologiekritik; für den engagierten Aufbruch in Richtung europäischer Einheit, an der revanchistisch-autoritäre Brandstifter seit Beginn der 2010er Jahre beharrlich rütteln.
Celan und die Anderen: Eine Anthologie zur Todesfuge. Herausgegeben von Norbert Gutenberg. Edition Noack & Block, 228 Seiten, 18 Euro.