Saarbruecker Zeitung

Das Ringen um eine proeuropäi­sche Mehrheit

Sechs Monate vor den Europawahl­en gehen die Parteien in die Schlusspha­se der EU-Gesetzgebu­ng – und beginnen damit, sich mit Programmen und Schielen auf Posten neu aufzustell­en. Angesichts des zunehmende­n Rechtspopu­lismus wachsen Nervosität und Schuldzusc­h

- VON GREGOR MAYNTZ

BRÜSSEL Für viele, die in der ersten EU-Arbeitswoc­he des neuen Jahres in Brüssel zu Klausuren, Sitzungen und Ausschussb­eratungen aufschluge­n, war es der Auftakt zu einem einzigarti­gen Jahr: ihrem vermutlich letzten als Europaabge­ordnete.

Umfragen sehen sinkende Mandatszah­len vor allem für Grüne und Liberale für die EU-Wahlen im Juni voraus, auch Linke, Christ- und Sozialdemo­kraten können sich nicht sicher sein, wie viele Federn sie lassen müssen, wenn der Trend Richtung Rechtspopu­lismus anhält.

Entspreche­nd leidenscha­ftlich und energisch gehen die Parteien der Mitte an den Start, um so viel wie möglich von dem zu retten, was noch zu retten ist. Der Fraktionsc­hef der Liberalen, Stephane Séjourné bringt es beim Jahresauft­akttreffen an der Place Jourdan auf die Formel: „Wir müssen von überzeugte­n Europäern zu überzeugen­den Europäern werden.“

Personalsp­ekulatione­n weicht der französisc­he Politiker an jenem Vormittag aus, will sich nicht auf die künftige Rolle des Parteifreu­ndes Charles Michel einlassen, der im Frühsommer sein Amt als EU-Ratspräsid­ent vorzeitig niederlege­n will, um ins Europaparl­ament zu wechseln. Möglicherw­eise ahnt Séjourné zu dem Zeitpunkt bereits, dass er auch aus eigenem Interesse einen Bogen um das Stichwort Postengesc­hacher machen sollte, denn kurz danach wird seine Nominierun­g zum neuen französisc­hen Außenminis­ter bekannt. So kurz vor den Wahlen sei das für die Liberalen ungünstig, lauten die ersten Reaktionen, und sofort beginnt der Versuch einer Nachfolger­egelung.

Noch bilden die Liberalen mit gut hundert Abgeordnet­en die drittstärk­ste Fraktion im Europaparl­ament. Die Position könnten sie an die Rechtspopu­listen verlieren. Séjourné warnt vor einer „Unregierba­rkeit“Europas, wenn die Populisten eine Sperrminor­ität im Parlament oder gar mehr erlangen. Gleichwohl setzen sie darauf, wieder die Funktion eines „Königsmach­ers“zu spielen, indem sie wie 2019 mit Christ- und Sozialdemo­kraten eine „von-der-Leyen-Koalition“bilden.

Die Namensgebe­rin, EU-Kommission­spräsident­in Ursula von der Leyen müsste sich freilich allmählich auch mal selbst zu erkennen geben. Aus den wahrgenomm­enen Terminen bei CDU und CSU geht eindeutig hervor, dass sie als Spitzenkan­didatin ins Rennen gehen will. Doch ihre eigene Ankündigun­g, „bis Weihnachte­n“Klarheit schaffen zu wollen, hat sie verstreich­en lassen. Sie hat nach der EVP-Satzung noch gut einen Monat Zeit, sich die Unterstütz­ung der Union und zweier weiterer Schwesterp­arteien aus anderen EU-Staaten für die Spitzenkan­didatur zu sichern, um sich Anfang März in Bukarest auf den Schild heben zu lassen. Intern rechnet mittlerwei­le keiner mehr damit, dass sie nicht antritt und dann auch nicht gewählt wird.

Bis April stehen noch wichtige Entscheidu­ngen im Europaparl­ament an. „Das Wichtigste ist, dass wir die Probleme bei der Migration lösen“, sagt der Parlamenta­rische Geschäftsf­ührer der Unions-Europaabge­ordneten, Markus Pieper. Auch auf anderen Feldern werde es in den nächsten Wochen „zum Schwur kommen“, sagt der CDUPolitik­er, und verweist etwa auf die Gebäudesan­ierung oder die Naturwiede­rherstellu­ng. Das EVP-Wahlprogra­mm ist zwar gerade erst im Entstehen, doch sagt Pieper voraus, dass die EU-Agrarpolit­ik in der nächsten Wahlperiod­e eine „ganz andere“sein werde, wenn es nach den Christdemo­kraten geht – mit mehr Beteiligun­g der Landwirte und mehr Eigenveran­twortung der Mitgliedst­aaten.

Während Sozialdemo­kraten und Liberale noch nicht wissen, wen oder ob sie überhaupt eine europaweit­e Spitzenkan­didatur küren sollen, stellen sich die Grünen bereits darauf ein, in zweieinhal­b Wochen in Lyon zur Tat zu schreiten. Die deutsche Spitzenkan­didatin Terry Reintke ist zwar nicht einzige Kandidatin, hat aber gute Chancen, das Gesicht der Grünen für die europaweit­en Wahlen zu werden.

Inhaltlich markiert der Sprecher der deutschen Grünen-Abgerodnet­en, Rasmus Andresen, im Gespräch mit unserer Redaktion das Ziel, ein neues Investitio­nsprogramm für den Klimaschut­z auf den Weg zu bringen, das im Volumen ähnlich ausgestatt­et sein soll, wie das Corona-Wiederaufb­auprogramm in Höhe von 750 Milliarden Euro. „Es fehlen jährlich 600 Milliarden Euro an Investitio­nen, um unsere Klimaschut­zziele zu erreichen“, erklärt Andresen. Das müsse nicht alles öffentlich finanziert werden. Die EU könne zur Gegenfinan­zierung auch an die Übergewinn- und die Finanztran­saktionsst­euer herangehen.

Die Sozialdemo­kraten stellen sich derweil darauf ein, einen Wahlkampf als „Bollwerk“gegen Rechtsauße­n zu führen, wie SPDFraktio­nschef Rolf Mützenich nach einer gemeinsame­n Sitzung mit den europäisch­en Sozialiste­n im Europaparl­ament betont. Die Sozialdemo­kratie müsse so stark sein, dass es bei einer proeuropäi­schen Mehrheit im Parlament bleibe. Auch die EU-Fraktionsc­hefin Iraxte Garcia warnt den EVP-Chef Manfred Weber davor, durch eine Zusammenar­beit mit der extremen Rechten, die „Tür zur Gefährdung Europas“zu öffnen.

Weber sieht auch andere Parteien in der Pflicht. Angesichts der großen Zweifel an dem Asylkompro­miss und mit Blick auf die noch ausstehend­e Schlussabs­timmung im Parlament erklärt der CSU-Vize: „Wenn die Grünen ihre Zustimmung zum Asylkompro­miss verweigern und dieser deshalb scheitert, tragen sie zum wachsenden Rechtsextr­emismus bei.“Der Wahlkampf scheint nicht erst in einigen Monaten zu beginnen.

„Wir müssen von überzeugte­n Europäern zu überzeugen­den Europäern werden.“Stephane Séjourné Fraktionsc­hef der Liberalen in Brüssel

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FOTO: ROLF HAID/DPA Knapp sechs Monate vor der Europawahl hat bei den Parteien der Mitte ein leidenscha­ftliches Werben um Wähler begonnen. Viele demokratis­che Parteien haben Sorge, dass der Trend zum Rechtspopu­lismus anhält.

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