Saarbruecker Zeitung

Eine Alpenregio­n wird zur Kulturhaup­tstadt

Historisch­e Last und Zukunftsso­rgen: Das Salzkammer­gut legt seine Wunden offen. Die österreich­ische Tourismusr­egion ist 2024 Europäisch­e Kulturhaup­tstadt, neben Bodø in Norwegen und Tartu in Estland.

- VON ALBERT OTTI Produktion dieser Seite: Vincent Bauer Lukas Ciya Taskiran

BAD ISCHL (dpa) „Es ist genau wie eine Postkarte.“So beschreibt der als Conchita Wurst bekannte Sänger Tom Neuwirth seine Heimat, das österreich­ische Salzkammer­gut. Die Berg- und Seenlandsc­haft rund um den ehemaligen kaiserlich­en Urlaubsort Bad Ischl präsentier­t sich dieses Jahr als Europäisch­e Kulturhaup­tstadt. Es ist das erste Mal, dass eine Alpenregio­n diesen Titel trägt. Zu Recht, findet der ESC-Gewinnner Neuwirth (35) und schwärmt von der Natur, dem Wetter, der Musik, dem Essen und den traditione­llen Trachten in dieser Gegend.

Doch wer annimmt, dass nun bis Dezember Kaiser-Nostalgie, DirndlKlis­chee und Bergidylle gefeiert werden, hat sich getäuscht. „Als jemand, der dort aufgewachs­en ist, bin ich kein Unwissende­r, was die Probleme dieser Region anbelangt“, sagt Neuwirth. Er weist etwa auf den Übertouris­mus, die NS-Vergangenh­eit oder die Diskrimini­erung von nicht-heterosexu­ellen Menschen in der Region hin – und nennt damit einige Themenschw­erpunkte des Programms, das die Geschichte des Salzkammer­guts aufarbeite­n und Wege in die Zukunft weisen will.

Das Salzkammer­gut verdankt seinen Namen dem Salzabbau, der hier nahe der Grenze zu Bayern bereits seit 7000 Jahren betrieben wird. Die tief eingeschni­ttenen Seen, die durch Gletscher geformt wurden, und die ringsum aufragende­n Berge locken seit Anfang des 19. Jahrhunder­ts fremde Gäste an – darunter den Hochadel und bedeutende Künstler. In Ischl lernte Kaiser Franz Joseph seine spätere Ehefrau Sisi kennen, am Attersee malte Gustav

Klimt berühmte Landschaft­sbilder, und Gustav Mahler schuf hier zwei Symphonien. Am Traunsee komponiert­e Arnold Schönberg sein erstes Werk in der avantgardi­stischen Zwölfton-Technik. Am Mattsee musste er hingegen in den 1920er Jahren seine Unterkunft verlassen, nachdem er wegen seiner jüdischen Abstammung angefeinde­t wurde.

Idylle, Kultur und historisch­e Last liegen auch im Programm von Salzkammer­gut 2024 oft nahe beieinande­r, das von 23 Kommunen in den Bundesländ­ern Oberösterr­eich und Steiermark bestritten wird. In Bad Ischl wird bis heute jeden Sommer der Geburtstag von Franz Joseph mit einer großen Portion Kitsch und Nostalgie zelebriert. Dieses Jahr soll eine Freiluftau­sstellung zu den Habsburger­n unter anderem daran erinnern, dass der Kaiser 1914 in Bad Ischl die Kriegserkl­ärung an Serbien unterschri­eb, die in den Ersten Weltkrieg mündete.

Wenige Jahrzehnte später übernahmen die Nationalso­zialisten die Macht. Im Salzkammer­gut versteckte­n die Nazis Raubkunst und wertvolle Kulturgüte­r in einem Salzbergwe­rk. Der deutsche Comiczeich­ner Simon Schwarz widmet sich diesem Kapitel der Geschichte als Teil seiner

Schau „Verborgen im Fels“. Unter dem Titel „Die Reise der Bilder“arbeiten drei weitere Ausstellun­gen das Thema Raubkunst auf. „Eine Wunde kann man nicht heilen, wenn man sie nicht behandelt“, sagt Tom Neuwirth. Die künstleris­che Leiterin von Salzkammer­gut 2024, Elisabeth Schweeger, beharrte trotz Widerständ­en aus der Region darauf, die Geschichte aufzuarbei­ten. „Ich finde, das gehört dazu, damit man nicht den gleichen Mist wiederholt“, sagt sie. Schweeger und ihr Team verharren aber nicht in der Vergangenh­eit, sondern setzen auch viele Programmpu­nkte zu aktuellen Themen wie Klimawande­l, Infrastruk­turproblem­e im ländlichen Raum oder Massentour­ismus. Die Themen sind ernst, doch viele Künstlerin­nen und Künstler setzen für ihre Projekte im Salzkammer­gut auf Poesie statt auf Schwerfäll­igkeit.

Der US-amerikanis­che Klangkünst­ler Bill Fontana bringt etwa in den Dachstein-Eishöhlen ein Duett aus dem Geräusch des schmelzend­en Gletschers und den Glocken der durch einen Brand zerstörten Kathedrale Notre-Dame de Paris zum Erklingen. Leerstehen­den Bahnhöfen in der Region wird neues Leben als Kunstateli­ers eingehauch­t, und in mehreren Parks können „frische Gedichte“aus „Poesie-Automaten“gezogen werden. Mit kulinarisc­hen Projekten und Konzerten soll die Wirtshausk­ultur wiederbele­bt werden, die nicht erst seit der Pandemie unter Druck steht.

Und Tom Neuwirth veranstalt­et zwei Chansonabe­nde – einen davon in seinem Heimatort Bad Mitterndor­f, wo er viel Zeit im Gasthaus seiner Eltern verbrachte. Sein kulinarisc­her Tipp an das Publikum des Kulturhaup­tstadtjahr­es: Die traditione­llen Süßspeisen aus dem Salzkammer­gut sollten als Teil des Besuchspro­gramms eingeplant werden, und auch die Schweineri­ppchen aus der Küche seiner Mutter „darf man nicht versäumen“, sagt er.

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FOTOS: ERNST HUSIC/GOLDMANN PUBLIC RELATIONS/DPA Der als Conchita Wurst bekannte Künstler Tom Neuwirth stammt aus der Region Salzkammer­gut.
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Die künstleris­che Leiterin von Salzkammer­gut 2024, Elisabeth Schweeger

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