Viele Jesiden führen ein Leben in der Warteschleife
Vor zehn Jahren haben Dschihadisten im Irak Dörfer der Jesiden überfallen. Obwohl die Verbrechen als Völkermord anerkannt wurden, bleibt die Situation aussichtslos.
BERLIN Sie glauben an den „Engel Pfau“, stammen aus einer bergigen Region im Nordirak – und haben einen Genozid überlebt. Hunderttausende Jesiden sind heute noch, fast zehn Jahre nachdem ihre Dörfer am Sindschar-Gebirge von der Terrormiliz „Islamischer Staat“überfallen wurden, ohne Heimat. Im Irak harren mehr als 300 000 Menschen, die der religiösen, meist kurdischen Minderheit angehören, weiterhin in provisorischen Lagern aus. Und in Deutschland, wo die weltweit größte Exilgemeinde mit etwa 200 000 Menschen lebt, wird inzwischen mehr als jeder zweite jesidische Asylantrag abgelehnt. Er sei „maßlos enttäuscht“, sagt Irfan Ortac, Vorsitzender des Zentralrats der Jesiden in Deutschland, unserer Redaktion.
Die Erwartungen der Jesiden an Deutschland sind hoch: Denn der Bundestag hat genau vor einem Jahr, am 19. Januar, einstimmig die IS-Verbrechen gegen die Jesiden als Völkermord anerkannt. Im Sommer 2014 waren rund 5000 Jesiden ermordet und etwa 7000 weitere verschleppt worden. Hunderttausende rannten um ihr Leben und flohen in die Berge.
Jesiden haben kein heiliges Buch, sie glauben an Seelenwanderung und Wiedergeburt, nicht an Paradies oder Hölle. Muslimische Fundamentalisten unterstellen ihnen daher, Ketzer und Teufelsanbeter zu sein. In dem Bundestagsantrag zum Völkermord hieß es, dass Jesiden „unter Berücksichtigung ihrer nach wie vor andauernden Verfolgung und Diskriminierung im Rahmen des Asylverfahrens Schutz zu gewähren“sei. Doch vergangenes Jahr betrug laut Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) die Schutzquote nur knapp 45 Prozent. Es wurde 2023 über mehr als 4500 Asylanträge entschieden.
Der Bundestagsabgeordnete Max Lucks (Grüne) sagt unserer Redaktion: „Es ist ein absoluter Missstand, ein moralischer Bankrott für Deutschland, dass Jesiden in den Irak abgeschoben werden.“Der Obmann im Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe betonte: „Wir schieben die Opfer von Islamismus dahin ab, wo sie nicht sicher sind. Gleichzeitig können islamistische Gruppierungen in Deutschland auf der Straße aufmarschieren.“Vor allem dem Bundesinnenministerium wirft er moralisches und politisches Versagen vor. Von dieser Seite sehe er „kein bisschen Engagement“. Im Gegenteil: „Es wird versucht, zu Lasten derjenigen, die verfolgt sind und wirklich Schutz brauchen, die Abschiebezahlen nach oben zu bekommen.“
Der Bochumer Grünen-Politiker sagt, dass seine Partei und seine Fraktion alles versuchten, um die Abschiebungen zu stoppen. „Wir als Parlament sind gefragt.“So kenne das Aufenthaltsrecht Regelungen für explizite Gruppen. „Wir haben 2014 weggeschaut, als die Jesiden einem Genozid ausgesetzt waren. Wir haben eine Verantwortung. Deswegen verdient diese Gruppe einen Paragrafen im Aufenthaltsgesetz, der ihr Bleiberecht sicherstellt.“
Die Schutzquote für Jesiden ist auch deshalb zurückgegangen, weil es aus Sicht der Bundesregierung seit dem Sieg über den IS im Irak im Oktober 2017 keine systematische Verfolgung der Gruppe mehr gibt. Gleichzeitig wies das Auswärtige Amt noch im November in einer Antwort auf eine schriftliche Frage im Parlament darauf hin, dass Angehörige von Minderheiten auch in der Sindschar-Region von Unsicherheit durch die Präsenz bewaffneter Gruppierungen berichteten. Daher würden Asylanträge von Jesiden durch das BAMF sorgfältig geprüft. Entscheidungen würden im Einzelfall getroffen. Rückführungen lägen in der Kompetenz der Länder, hieß es weiter.
Als erstes Bundesland hat Mitte Dezember Nordrhein-Westfalen einen zunächst dreimonatigen Abschiebestopp für Jesiden erlassen. Hier lebt mit fast 80 000 Personen ein großer Teil der Diaspora. Im Januar beschloss auch Thüringen eine solche Regelung, die für Frauen und minderjährige Kinder gilt. Wie es nach Ablauf der Frist weitergeht, ist unklar.
In dem nordirakischen Gebiet laufen über die deutsche Entwicklungshilfe derzeit mehr als ein Dutzend Projekte unter anderem im Sindschar-Distrikt. Einige unterstützen den Wiederaufbau, wie eine Sprecherin des Entwicklungsministeriums sagt. Der Beauftragte der Bundesregierung für Weltanschauungsfreiheit, Frank Schwabe (SPD), räumt ein: „Eine reelle Rückkehrperspektive ergibt sich jedoch erst, wenn Sicherheit, Infrastruktur, Verwaltung und Beschäftigungsmöglichkeiten gewährleistet werden können.“Immer noch lebten zu viele jesidische Familien in Flüchtlingslagern. Es sei „dramatisch“, wenn knapp zehn Jahre nach dem Genozid des IS die Gemeinschaft wenig Zukunft in ihrer Heimat sehe.
Zentralratsvorsitzender Ortac kritisiert vor dem Hintergrund die Abschiebungen. Die Dörfer seien noch weitgehend zerstört und das Gebiet sei vermint. „Milizionäre von PKK und Hashd al-Shaabi tummeln sich dort. Es gibt weder Sicherheit noch Rechtsstaatlichkeit“, sagt er mit Blick auf die schiitischen und kurdischen Milizen. Bereits mehrere Dutzend Jesiden seien tot aufgefunden worden. „Niemand weiß, wer sie getötet hat.“
Ortac, der auch SPD-Politiker ist, wirft der Bundesregierung vor, getätigte Versprechen nicht zu erfüllen. Niemand spreche noch von einer „internationalen politischen Konferenz zur Sicherheit und zum Wiederaufbau“, die die Ampel-Regierung laut Bundestagsantrag prüfen sollte. Ortac sagt mit Blick auf den Bundestagsbeschluss vor einem Jahr, Deutschland habe „damit auch moralisch gepunktet“. Auch wenn sich daraus keine juristische Verpflichtung ergebe, „ich sehe eine moralische Verpflichtung“.