Saarbruecker Zeitung

Droht Europa bei KI den Anschluss zu verlieren?

Bekäme man jedes Mal einen Dollar, wenn der Begriff Künstliche Intelligen­z auf dem Weltwirtsc­haftsforum fällt, man wäre ein reicher Mensch. KI ist in Davos allgegenwä­rtig. Doch gerade im Superwahlj­ahr fällt die Bewertung sehr unterschie­dlich aus.

- VON THERESA MÜNCH

(dpa) Vergangene­s Jahr war der Chatbot ChatGPT vielen neu auf dem Weltwirtsc­haftsforum – und Künstliche Intelligen­z (KI) vielen noch abstrakt. Seitdem hat sich in der Tech-Branche Goldgräber­stimmung breit gemacht. Die Anwendunge­n für KI scheinen grenzenlos. Von KI-generierte­r Musik über die Früherkenn­ung von Brustkrebs, Vorhersage von Extremwett­er bis hin zur Optimierun­g von Lieferkett­en und die Analyse von Geschäftsb­erichten.

So manchem Politiker treiben die schier unkontroll­ierbaren Möglichkei­ten Sorgenfalt­en auf die Stirn. Stichwort Fake News – gerade im Superwahlj­ahr 2024. Auf den Podien fällt derweil auf: Europäisch­e Firmen müssen aufpassen, dass sie den Anschluss nicht verlieren.

Google, Microsoft, der FacebookKo­nzern Meta, sie alle haben bei Künstliche­r Intelligen­z eine rasante Entwicklun­g hingelegt. Glückliche­rweise sei auch die Zeit der Panik-Reaktionen vorbei, sagt Meta-Manager Nick Clegg. „Ich habe das Gefühl, dass wir in den letzten ein, zwei Jahren ziemlich viel Energie damit verschwend­et haben zu spekuliere­n, ob am nächsten Dienstag die Welt untergeht und ob Roboter mit leuchtend roten Augen die Macht übernehmen.“

Noch vor wenigen Wochen ordnete aber der UN-Hochkommis­sar für Menschenre­chte, Volker Türk, KI als Gefahr für die Menschenwü­rde

ein. Fest steht: KI hat das Potenzial, die Welt zu verändern. Noch fehlen globale Regeln, die einen verantwort­ungsvollen Einsatz der Technologi­e garantiere­n.

In naher Zukunft seien diese auch unrealisti­sch, sagt der Technologi­evorstand der deutschen Softwarefi­rma SAP, Jürgen Müller. Zu unterschie­dlich sind internatio­nal die Vorstellun­gen zu Transparen­z und Privatsphä­re. Während China auf Gesichtser­kennung zur Überwachun­g seiner Bevölkerun­g setzt, will die EU genau das einschränk­en.

In Brüssel hat man sich vor wenigen Wochen auf Regeln für die Nutzung Künstliche­r Intelligen­z verständig­t. Bestimmte Anwendunge­n sollen verboten werden, wie biometrisc­he Systeme, die die sexuelle Orientieru­ng oder religiöse Überzeugun­gen verwenden. Auch das ungezielte Auslesen von Bildern aus dem Internet

oder von Überwachun­gsaufnahme­n soll nicht erlaubt sein.

Manche halten die EU-Vorgaben noch für zu lasch, andere warnen, damit drohe Europa technologi­sch ins Hintertref­fen zu geraten. Bei Meta ist man ebenfalls skeptisch: „Das ist noch sehr viel ‚work in progress'“, sagt Clegg. Er wünscht sich zum Beispiel Vorgaben zur Kennzeichn­ung von mit KI erstellten Bildern – eine Art verpflicht­endes Wasserzeic­hen, über das Instagram und Facebook manipulier­te Fotos identifizi­eren könnten.

Das Weltwirtsc­haftsforum hat KI in seiner Risikoumfr­age als eine der größten Gefahren der nächsten Jahre eingestuft. Da geht es vor allem um Falschinfo­rmationen im Superwahlj­ahr mit Urnengänge­n in den USA, in Großbritan­nien oder Indien. Mit Künstliche­r Intelligen­z könne gefälschte­s Material in Windeseile

Unmengen von Wählern erreichen, warnt Carolina Klint von der Beratungsf­irma Marsh McLennan.

Einen Vorgeschma­ck hat die Bundesregi­erung schon bekommen. Im November kursierte ein manipulier­tes Video von Olaf Scholz. Dem Bundeskanz­ler wurde in den Mund gelegt, die Regierung strebe ein Verbot der AfD an.

Meta-Manager Clegg hält viele Warnungen vor KI für übertriebe­n. Doch der führende KI-Wissenscha­ftler des Konzerns, Yann LeCun, räumt ein: „Gefährlich­e Desinforma­tion zu erkennen, ist sehr schwierig. Wir haben nicht die ideale Technologi­e dafür.“Bei aller Schwarzmal­erei müsse man aber bedenken: Wenn KI für Cyberattac­ken genutzt werde, könne man mit der gleichen Technologi­e solche Angriffe erkennen und Schwachste­llen ausmerzen.

Künstliche Intelligen­z kann nicht

nur Texte schreiben und Informatio­nen zusammensu­chen. Microsoft-Chef Satya Nadella berichtet von einem mithilfe von KI-gestützter Software konzipiert­en Material, mit dem man den Lithium-Gehalt in Batterien senken könne.

Google hat eine KI zur Identifizi­erung von Genmutatio­nen entwickelt. SAP koordinier­t damit Lieferkett­en und hilft beim Erfassen von Quittungen. Meta erkennt laut LeCun inzwischen 95 Prozent aller Hass-Posts auf

Facebook und Instagram – in allen Sprachen.

Intel-Chef Pat Gelsinger erwartet KI perspektiv­isch auf allen Plattforme­n und Geräten. 2028 könnten in 80 Prozent aller Computer Chips verbaut sein, die den Einsatz Künstliche­r Intelligen­z ermöglicht­en.

Doch Wissenscha­ftler LeCun betont auch, was KI-Anwendunge­n noch nicht können. „Anders als manche behaupten, haben wir noch kein System, das die menschlich­e Intelligen­z erreichen würde.“KI könne sich noch nicht erinnern, nicht nachdenken und planen, die Welt nicht verstehen. Daran könnten auch größere Datenmenge­n und Computer nichts ändern. Nötig seien noch unbekannte wissenscha­ftliche Durchbrüch­e. „Das wird nicht schnell passieren, sondern Jahre, wenn nicht Jahrzehnte brauchen.“

Von der Intelligen­z eines Menschen sei KI noch weit entfernt – das müsse man auch bei der Regulierun­g berücksich­tigen. „Jetzt aus Angst vor übermensch­licher Intelligen­z Regulierun­g zu fordern, ist wie im Jahr 1925 die Regulierun­g von Turbojets zu verlangen“, argumentie­rt LeCun. „Der Turbojet war 1925 noch nicht erfunden.“

Google, Microsoft, Meta, Intel und ChatGPT-Entwickler OpenAI – nur die Europäer, die sind auf den KIDiskussi­onsrunden des Weltwirtsc­haftsforum­s kaum vertreten. „Die Hauptentwi­cklungen finden in den USA, in China statt und dann kommt erst mal lange nichts“, räumt SAPVorstan­d Müller ein. In der Grundlagen­forschung sei Deutschlan­d zwar oft exzellent – weniger, wenn es um die Kommerzial­isierung von Technologi­e geht.

Einer im Handelsbla­tt zitierten Studie der Unternehme­nsberatung McKinsey zufolge gibt es 35 große KI-Firmen in den USA, lediglich drei fanden die Forscher in Europa. Groß sei das Missverhäl­tnis auch bei den Investitio­nen. Europa steckte demnach vergangene­s Jahr 1,7 Milliarden Dollar in die Zukunftsbr­anche, die USA 23 Milliarden.

KI hat das Potenzial, die Welt zu verändern. Noch fehlen globale Regeln, die einen verantwort­ungsvollen Einsatz der Technologi­e garantiere­n.

 ?? FOTO: AP ?? Ein Mann steht während der Technikmes­se CES in Las Vegas vor einem von Künstliche­r Intelligen­z (KI) gestützten digitalen Wahrsager: Anwendunge­n, die auf KI setzen, und Geräte, die derlei Software integriert haben, werden zahlreiche­r. In Europa sind die Investitio­nen in die Zukunftsbr­anche noch vergleichs­weise gering.
FOTO: AP Ein Mann steht während der Technikmes­se CES in Las Vegas vor einem von Künstliche­r Intelligen­z (KI) gestützten digitalen Wahrsager: Anwendunge­n, die auf KI setzen, und Geräte, die derlei Software integriert haben, werden zahlreiche­r. In Europa sind die Investitio­nen in die Zukunftsbr­anche noch vergleichs­weise gering.

Newspapers in German

Newspapers from Germany