Zwei Frauen, ein Mann und ein Zufallsfund
Ein Foto-Album gab einer Bibliothekarin der Stiftung Saarländischer Kulturbesitz Rätsel auf. Jetzt ist es in der Ausstellung „ Mythos Paris“zu sehen und lädt uns zu einem Stadtspaziergang durch das Paris Napoleons III. ein. Wie kam das?
Öfter als vermutet spielt nicht der Verstand die größte Rolle, wenn Museumsleute über Ausstellungsthemen nachdenken. Nicht wenige Kuratoren erleben mit einem Künstler einen „Coup de foudre“, eine Liebe auf den ersten Blick, bevor sie dessen Werk ausstellen. Eine Art Verliebtheit ereilte auch Dr. Roland Augustin vor drei Jahren. Die Bibliothekarin der Stiftung Kulturbesitz, Angelika Friedrich, hatte ihn zu sich gebeten: „Komm mal, ich hab hier was Schönes“, sagte sie. Was für den Leiter der Fotografischen Sammlung des Saarlandmuseums folgte, war ein selten intensiver Glücksmoment. Daraus gewachsen ist die aktuell laufende, die begeisternde FotoAusstellung „Mythos Paris“in der Modernen Galerie. Auf dem Weg bis zur Realisierung spielte die ebenfalls entflammte Museumsdirektorin Andrea Jahn eine maßgebliche Rolle. Doch der Reihe nach.
Als Angelika Friedrich 2020 noch nicht erfasste Altbestände der Stiftungs-Bibliothek katalogisierte, stieß sie auf ein Album, das ihr Rätsel aufgab, der Titel: „Photographies de Paris“. Nicht nachvollziehbar war, wie und wann der Bildband in den Bestand gekommen war, es fehlten Druckort und Verlag, und außer Abbildungen gab es nichts, keinen Text. Friedrich: „Ich habe zuerst nicht erkannt, dass es sich um aufgeklebte Original-Fotos handelte.“Auch den Namenszug unter jeder der 31 Abbildungen konnte
sie nicht entziffern: War das Bahlug oder Baldung?
Der detektivische Sinn der Bibliothekarin war geweckt, sie holte sich Hilfe bei der Archivarin, Dr. Eva Wolf, die alte Handschriften sehr gut lesen kann. Die ermittelte dann den Namen: E. Baldus. Von da an war es einfach, denn unter diesem Namen
fand sich ein ausführlicher Eintrag in Wikipedia: „Édouard Baldus (1813-1889) war ein deutsch-französischer Fotograf. Er ist einer der Pioniere der Fotografie und gilt als erster professioneller Architekturfotograf“. 31 Originalfotos befanden sich in dem Fotoalbum, durch das ein spektakulärer Stadtspaziergang
durch das Paris des Zweiten Kaiserreichs möglich wird. Es war die Zeit, in der die französische Hauptstadt unter der Leitung des Architekten Georges-Eugène Haussmann das Mittelalter abstreifte und sich mit klassizistischen Bauwerken und breiten Boulevards in einen luxuriös auftrumpfenden Sehnsuchtsort für
Menschen aus aller Welt verwandelte.
1855 fand die erste Weltausstellung statt, vier weitere folgten bis 1900 – Paris war eine gigantische Baustelle. Paris wurde modern, und Baldus sollte die architektonischen Schätze des Landes im Auftrag der Regierung festhalten, mit dem neuen Medium Fotografie. Dass Baldus oft Gerüste und Bauarbeiter mit dokumentierte, hält Augustin für einen bemerkenswerten Umstand, der den Baldus-Werken hohen authentischen Reiz geben – neben ihrer künstlerischen Aura. Denn Baldus behandelte die Bauwerke wie Stars, huldigte deren Charisma.
Der Fotograf hatte kein Interesse an räumlicher Illusion, dafür an strenger Komposition: Monumental, wie in den Boden gerammt, stehen die Paris-Ikonen im Bild, das Panthéon, das Hotel de Ville oder die Notre Dame. Augustin zeigt alle 31 Baldus-Motive in der „Mythos-Paris“-Schau, füllt damit zwei Abteilungen. Wer will, darf sich an den Stil von Bernd und Hilla Becher erinnert fühlen, die ebenfalls die Zentralperspektive und die Menschenleere zu ihrem Prinzip machten. Tatsächlich wurde, als es Ende der 70er Jahre um die Durchsetzung des Dokumentarischen und der Gattung Fotografie in der Kunst ging, unter anderem eine legitimierende Traditionslinie zu Baldus gezogen, zu dessen formaler Modernität – Augustin klärt darüber im Katalog auf.
Jedenfalls war es für den Leiter der Fotografischen Sammlung ein „großer Moment“, als er das Baldus-Album erstmals untersuchte, weil klar war: Seine Sammlung hatte einen bedeutenden Namen mehr. Zunächst war allerdings unklar, ob es sich um Drucke oder um ausbelichtete Fotografien handelte. Doch schnell war klar: Das Album versammelte Albuminabzüge, die, weil sie von gleich großen Negativen im Kontaktverfahren abgezogen wurden, einen großen Detailreichtum bieten.
Der Zufallsfund entpuppte sich also als Volltreffer, und Augustin präsentierte ihn seiner Chefin: „Frau Jahn war fasziniert von diesem ungewöhnlichen Blick auf Paris, ohne Verkehr, ohne Menschenmassen“. Baldus muss gezeigt werden, darüber bestand schnell Einigkeit. „Lass uns was Größeres daraus machen“, habe die Stiftungs-Vorständin gesagt und auf die Aktualität des Themas Paris im Hinblick auf das Elysée-Jahr (2023) und die Olympischen Spiele (2024) verwiesen. So war die Idee geboren. Und die Realisierung hat bereits ein überaus positives, ganzseitiges Echo in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) gefunden. Wer keine überwältigenden Großformate zeitgenössischer Fotografen erwartet, sondern sich einlässt auf eine lehrreiche, kulturhistorische Zeitreise in die Anfänge der Fotografie, den erwartet in der Modernen Galerie ein Fest. Dank Baldus.
„Mythos Paris. Fotografie 1860 bis 1960“bis 10. März; Dienstag bis Sonntag: 10 bis 18 Uhr, Mittwoch bis 20 Uhr.