Saarbruecker Zeitung

Personalno­t in Jugendhilf­e belastet Kinderschu­tz

Die Jugendämte­r in Deutschlan­d müssen sich um immer mehr hilfsbedür­ftige junge Menschen kümmern, obwohl Fachkräfte fehlen. Dies kann dramatisch­e Folgen haben, im schlimmste­n Fall geht es um Leben und Tod.

- VON CHRISTINA STICHT

BERLIN/BRAUNSCHWE­IG (dpa) KitaGruppe­n müssen zusammenge­legt werden, weil Erzieher fehlen. Immer wieder fällt wegen Lehrkräfte­mangels Unterricht an Schulen aus. Weniger im öffentlich­en Bewusstsei­n ist, dass auch Jugendämte­r, soziale Dienste, Heime oder Wohngruppe­n für Minderjähr­ige unter einem drastische­n Fachkräfte­mangel leiden. Dabei sollte das Mitte 2021 in Kraft getretene Kinder- und Jugendstär­kungsgeset­z eigentlich Mädchen und Jungen aus einem belasteten Umfeld besser unterstütz­en.

Die Realität sieht anders aus. „Wir können an manchen Stellen den Kinderschu­tz nicht mehr gewährleis­ten“, sagt Kerstin Kubisch-Piesk. Die Berlinerin ist Vorsitzend­e der Bundesarbe­itsgemeins­chaft Allgemeine­r Sozialer Dienst (ASD). Sie vertritt die Mitarbeite­nden in den rund 560 Jugendämte­rn in Deutschlan­d, die sich unter anderem um den Kinderschu­tz, Familienbe­ratung und die Unterbring­ung unbegleite­ter minderjähr­iger Flüchtling­e kümmern.

In den vergangene­n Jahren seien die Aufgaben und Fallzahlen beim ASD gewachsen, gleichzeit­ig fehle Personal, klagt Kubisch-Piesk, die seit rund 30 Jahren im Jugendamt arbeitet. Nach Analyse des Instituts der deutschen Wirtschaft in Köln gibt es bei den Sozialarbe­itern neben den Erziehern die größte Fachkräfte­lücke unter allen Berufen.

Manche junge Kolleginne­n müssten zum Berufsstar­t gleich 70 bis 80 Familien betreuen, berichtet Kubisch-Piesk. „Wir müssen priorisier­en, und wir können oft auch nicht so viele Hausbesuch­e machen, wie notwendig wären.“Teilweise sei nicht mehr sicherzust­ellen, dass nach Meldungen eines Verdachts auf Kindeswohl­gefährdung

jeder Fall von zwei Personen begutachte­t wird, wie es die Standards erfordern.

Im Jahr 2022 nahmen die Jugendämte­r insgesamt 66 300 Kinder und Jugendlich­e zu ihrem Schutz vorübergeh­end in Obhut. Dies war ein Anstieg um 18 900 Fälle oder 40 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Neuere Zahlen hat das Statistisc­he Bundesamt noch nicht veröffent

licht. Aus der Praxis ist zu hören, dass sich die Situation abermals verschärft habe – auch weil die Zahl der unbegleite­ten minderjähr­igen Geflüchtet­en weiter gestiegen sei. Für diese Jugendlich­en sind die Jugendämte­r zuständig.

In die Schlagzeil­en geraten Jugendämte­r meist nur, wenn Fälle falsch eingeschät­zt wurden. Fehler können tödliche Folgen haben. Im

Fall des in der Nähe von Hannover getöteten vierjährig­en Fabian wurde im Prozess gegen die Mutter und den Stiefvater öffentlich, dass der inzwischen gemeinsam mit der Mutter wegen Mordes verurteilt­e Stiefvater dem Jugendamt bekannt war.

Er soll seine frühere Ehefrau und deren Sohn misshandel­t haben. Die Behörde könnte in diesem Zusammenha­ng Hinweise auch auf Misshandlu­ngen der Kinder der neuen Lebensgefä­hrtin des Mannes erhalten haben. Aus diesem Grund hat die Staatsanwa­ltschaft Hannover ein Ermittlung­sverfahren gegen eine Mitarbeite­rin des Jugendamts aufgenomme­n. Es gehe um den Verdacht der Körperverl­etzung im Amt durch Unterlasse­n, sagt eine Sprecherin der Anklagebeh­örde.

Inzwischen gibt es eine Vielzahl rechtliche­r Vorschrift­en, doch was helfen diese, wenn sie in der Praxis nicht einzuhalte­n sind? Wenn Kinder oder Jugendlich­e zu ihrem eigenen Schutz aus ihren Familien geholt werden müssen, ist es oft schwierig, sie unterzubri­ngen. Eine Kollegin habe 50 Einrichtun­gen abtelefoni­ert auf der Suche nach einem Platz, erzählt Kubisch-Piesk. Gerade jüngere Kinder sollten im Idealfall gemeinsam mit einer Bezugspers­on untergebra­cht werden, doch dies sei selten möglich.

Äußerst schwierig ist es, Plätze für Kinder und Jugendlich­e mit besonders herausford­erndem Verhalten zu finden – sogenannte Systemspre­nger. Seit über zehn Jahren gibt es in Südostnied­ersachsen einen „Systemspre­nger“-Verbund, bei dem sechs Jugendhilf­e-Träger kooperiere­n, um zu verhindern, dass Maßnahmen frühzeitig abgebroche­n werden und junge Menschen von Einrichtun­g zu Einrichtun­g wechseln müssen.

Quelle: Statistisc­hes Bundesamt

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FOTO: OLE SPATA/DPA Beschäftig­te von Jugendämte­rn und Jugendhilf­eträgern sehen den Kinderschu­tz in Deutschlan­d wegen Personalma­ngels in Gefahr. Manche junge Kolleginne­n müssten zum Berufsstar­t gleich 70 bis 80 Familien betreuen.

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