Protestforscher beobachten Aufwind für ungehörte Stimmen
Aus den aktuellen Demonstrationen gegen Rechts könnte ein neues zivilgesellschaftliches Engagement entstehen, meinen Forscher – mahnen aber zur Vorsicht.
Die Proteste gegen Rechtsextremismus und für die Stärkung der Demokratie, denen sich am Wochenende Hunderttausende in ganz Deutschland anschlossen, gehen auch zu Wochenbeginn weiter. Die Polizei habe etwa 910 600 Menschen gezählt, die am Wochenende an den Demonstrationen teilgenommen hätten, sagte ein Sprecher des Bundesinnenministeriums am Montag in Berlin. Zahlreiche Politiker, auch Mitglieder der Bundesregierung, zeigten sich beeindruckt von dem großen Zulauf.
Der Protestforscher Peter Ullrich von der Technischen Universität Berlin sieht bereits jetzt Anzeichen dafür, dass aus den Demonstrationen dauerhaft ein stärkeres zivilgesellschaftliches Engagement gegen Rechts erwachsen könnte, mahnt zugleich aber zur Vorsicht. „Noch ist offen, ob es hier nur eine kurze Aufwallung gibt oder sich eine neue Protestwelle stabilisiert. Dafür spricht aber einiges“, sagt Ullrich und führt auf: die breite Beteiligung und die Vielfalt – Ost, West, Großund Kleinstädte –, die Tatsache, dass sehr viele Organisationen, aber auch Teile von Wirtschaft und lokaler Zivilgesellschaft das Thema aufgreifen würden. Aus diesem Grund hält der Soziologe auch Vorsicht für angebracht. „Die gemeinsame Klammer ist sehr vage, auch sehr emotional, aber nicht durch gemeinsame Analysen der gesellschaftlichen Verhältnisse getragen.“Das Spektrum reiche von der radikalen Linken bis zur Bundesregierung. Sogar sehr konservative Politiker, deren Politik mit den Demos mit kritisiert werde, würden aufspringen, so Ullrich.
Tatsächlich gibt es aus der Bundesregierung wie aus Landesregierungen viel Unterstützung für die Proteste. „Was für eine Kraft, die von diesem Wochenende ausgeht“, schrieb etwa Vizekanzler Robert Habeck (Grüne) am Sonntag auf Instagram. Die Demonstrierenden würden zeigen, dass Deutschland eine starke Demokratie sei, so der Grünen-Politiker. Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) sprach am Montag im ZDF von einem „sehr guten Signal“, dass so viele Menschen in Deutschland aufgestanden seien, sich gegen die AfD und ihre Doktrin wenden würden. Die Demonstrationen müssten auch ein „Weckruf“für die Ampel sein, so Söder.
Der Berliner Protestforscher Ullrich beobachtet auf den Demonstrationen beides, sowohl AmpelBefürworter als auch diejenigen, die betonen, „wie viel Anteil die gegenwärtige Politik am Wachsen des Rechtsextremismus“habe. Die letzte Gruppe sei sicher eine „sehr relevante Stimme auf den Protesten“, sagt der Soziologe. Er ist sich sicher, dass mit den Demonstrationen keine AfD-Wähler erreicht werden. „Die wählen die AfD nicht trotz, sondern wegen ihrer rechtsextremen Positionen.“Erreicht würden aber bisher Unentschlossene und Desinteressierte. Vor allem aber ändere sich das diskursive Klima im Land. „Über Monate, vielleicht Jahre hat die AfD mit ihren Themen die Agenda bestimmt.“Nun gebe es eine „massive Artikulation“derer, die Werte wie Demokratie, Vielfalt, Menschenrechte, Antirassismus hochhalten würden, die keine Angst vor einer „angeblichen Migrationskrise“hätten. „Die waren vorher genauso da, aber nun werden sie deutlich und bekommen die ihnen zustehende Öffentlichkeit. So erfährt eine andere, fast verschüttete Sicht auf die Dinge wieder Aufwind als Möglichkeit des Vorstellbaren“, so der Protestforscher.
Ähnlich beschreibt es der Protestforscher Alexander Leistner. „Für die einen sind die Demonstrationen wie ein Weckruf, aus ihrer Art Schockstarre aufzuwachen. Für andere wirkt es wie ein Aufbruch, auf den man gewartet hat“, sagte der Soziologe von der Universität Leipzig am Freitag dem Nachrichtenmagazin Stern. Viele bereits Engagierte hätten in den vergangenen Monaten vielleicht auch ein Gefühl der Resignation gehabt.
Dass die Proteste zu anderen Zwecken instrumentalisiert oder unterwandert werden, beobachtet Ullrich schon allein aufgrund des breiten Spektrums an unterschiedlichen Zielen und politischen Einstellungen bei den Protesten nicht. Man finde dort Grüne, Linke, Sozialdemokraten oder auch sonst eher unpolitische Leute. „Also gibt es unterschiedliche Agenden“, so Ullrich.