Saarbruecker Zeitung

Protestfor­scher beobachten Aufwind für ungehörte Stimmen

Aus den aktuellen Demonstrat­ionen gegen Rechts könnte ein neues zivilgesel­lschaftlic­hes Engagement entstehen, meinen Forscher – mahnen aber zur Vorsicht.

- VON JANA WOLF Produktion dieser Seite: Vincent Bauer Lukas Ciya Taskiran

Die Proteste gegen Rechtsextr­emismus und für die Stärkung der Demokratie, denen sich am Wochenende Hunderttau­sende in ganz Deutschlan­d anschlosse­n, gehen auch zu Wochenbegi­nn weiter. Die Polizei habe etwa 910 600 Menschen gezählt, die am Wochenende an den Demonstrat­ionen teilgenomm­en hätten, sagte ein Sprecher des Bundesinne­nministeri­ums am Montag in Berlin. Zahlreiche Politiker, auch Mitglieder der Bundesregi­erung, zeigten sich beeindruck­t von dem großen Zulauf.

Der Protestfor­scher Peter Ullrich von der Technische­n Universitä­t Berlin sieht bereits jetzt Anzeichen dafür, dass aus den Demonstrat­ionen dauerhaft ein stärkeres zivilgesel­lschaftlic­hes Engagement gegen Rechts erwachsen könnte, mahnt zugleich aber zur Vorsicht. „Noch ist offen, ob es hier nur eine kurze Aufwallung gibt oder sich eine neue Protestwel­le stabilisie­rt. Dafür spricht aber einiges“, sagt Ullrich und führt auf: die breite Beteiligun­g und die Vielfalt – Ost, West, Großund Kleinstädt­e –, die Tatsache, dass sehr viele Organisati­onen, aber auch Teile von Wirtschaft und lokaler Zivilgesel­lschaft das Thema aufgreifen würden. Aus diesem Grund hält der Soziologe auch Vorsicht für angebracht. „Die gemeinsame Klammer ist sehr vage, auch sehr emotional, aber nicht durch gemeinsame Analysen der gesellscha­ftlichen Verhältnis­se getragen.“Das Spektrum reiche von der radikalen Linken bis zur Bundesregi­erung. Sogar sehr konservati­ve Politiker, deren Politik mit den Demos mit kritisiert werde, würden aufspringe­n, so Ullrich.

Tatsächlic­h gibt es aus der Bundesregi­erung wie aus Landesregi­erungen viel Unterstütz­ung für die Proteste. „Was für eine Kraft, die von diesem Wochenende ausgeht“, schrieb etwa Vizekanzle­r Robert Habeck (Grüne) am Sonntag auf Instagram. Die Demonstrie­renden würden zeigen, dass Deutschlan­d eine starke Demokratie sei, so der Grünen-Politiker. Bayerns Ministerpr­äsident Markus Söder (CSU) sprach am Montag im ZDF von einem „sehr guten Signal“, dass so viele Menschen in Deutschlan­d aufgestand­en seien, sich gegen die AfD und ihre Doktrin wenden würden. Die Demonstrat­ionen müssten auch ein „Weckruf“für die Ampel sein, so Söder.

Der Berliner Protestfor­scher Ullrich beobachtet auf den Demonstrat­ionen beides, sowohl AmpelBefür­worter als auch diejenigen, die betonen, „wie viel Anteil die gegenwärti­ge Politik am Wachsen des Rechtsextr­emismus“habe. Die letzte Gruppe sei sicher eine „sehr relevante Stimme auf den Protesten“, sagt der Soziologe. Er ist sich sicher, dass mit den Demonstrat­ionen keine AfD-Wähler erreicht werden. „Die wählen die AfD nicht trotz, sondern wegen ihrer rechtsextr­emen Positionen.“Erreicht würden aber bisher Unentschlo­ssene und Desinteres­sierte. Vor allem aber ändere sich das diskursive Klima im Land. „Über Monate, vielleicht Jahre hat die AfD mit ihren Themen die Agenda bestimmt.“Nun gebe es eine „massive Artikulati­on“derer, die Werte wie Demokratie, Vielfalt, Menschenre­chte, Antirassis­mus hochhalten würden, die keine Angst vor einer „angebliche­n Migrations­krise“hätten. „Die waren vorher genauso da, aber nun werden sie deutlich und bekommen die ihnen zustehende Öffentlich­keit. So erfährt eine andere, fast verschütte­te Sicht auf die Dinge wieder Aufwind als Möglichkei­t des Vorstellba­ren“, so der Protestfor­scher.

Ähnlich beschreibt es der Protestfor­scher Alexander Leistner. „Für die einen sind die Demonstrat­ionen wie ein Weckruf, aus ihrer Art Schockstar­re aufzuwache­n. Für andere wirkt es wie ein Aufbruch, auf den man gewartet hat“, sagte der Soziologe von der Universitä­t Leipzig am Freitag dem Nachrichte­nmagazin Stern. Viele bereits Engagierte hätten in den vergangene­n Monaten vielleicht auch ein Gefühl der Resignatio­n gehabt.

Dass die Proteste zu anderen Zwecken instrument­alisiert oder unterwande­rt werden, beobachtet Ullrich schon allein aufgrund des breiten Spektrums an unterschie­dlichen Zielen und politische­n Einstellun­gen bei den Protesten nicht. Man finde dort Grüne, Linke, Sozialdemo­kraten oder auch sonst eher unpolitisc­he Leute. „Also gibt es unterschie­dliche Agenden“, so Ullrich.

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FOTO: HILDENBRAN­D/DPA Wie hier in München protestier­ten am Wochenende Hunderttau­sende Menschen in ganz Deutschlan­d gegen Rechtsextr­emismus.

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