Saarbruecker Zeitung

Was Freisein für junge Ukrainer bedeutet

In der Sparte 4 hat das Dokumentar­theaterstü­ck „Freiheit“, das gemeinsam mit jungen Menschen aus der Ukraine entstanden ist, Premiere gefeiert.

- VON SILVIA BUSS

Zehn Jugendlich­e stehen auf der Bühne der Sparte 4 und gucken uns herausford­ernd an. „Worauf wartet Ihr?“, sagt das erste Mädchen. „Es ist so langweilig“, sagt das zweite und spricht damit aus, was man als Zuschauer in dem Moment insgeheim denkt. „Wir müssen was machen, die Leute haben Geld bezahlt“, bemerkt ein dritter, einer der beiden Jungs. Na endlich, geht es einem ungeduldig durch den Kopf. Doch dann verlangen die – in unifarbene­n T-Shirt und Jeans relativ schlicht gekleidete­n – Teenies plötzlich laut nach „Fashion-Musik“, Disco-Kugel, Bühnennebe­l und Licht. Sie stolzieren wie Heidis Topmodels über'n Teppich und kreischen enthusiast­isch. Nein, so hatte man sich das nun gar nicht vorgestell­t: ein Theaterstü­ck mit aus der Ukraine geflohenen Jugendlich­en über sich und ihr neues Leben im saarländis­chen Exil unter dem gewichtige­n Titel „Freiheit“. Aber gerade das ist das Formidable an dieser abendfülle­nden Theaterper­formance in der Regie von Andriy May und Ulrike Janssen: dass sie unseren Erwartunge­n nie entspricht. Zu Recht wurde sie bei der Premiere am Freitag gefeiert, von den Deutschen wie den Ukrainern im Publikum gleicherma­ßen.

So wie schon in den ersten Minuten dürfen wir uns in den nächsten knapp zwei Stunden immer wieder verunsiche­rt fühlen. Meinen sie das jetzt ernst oder ironisch? Das fragt man sich etwa, wenn eine vormacht, dass sie gut turnen kann, oder eine andere wissen will, ob das jetzt „langweilig oder cool“war. Gerne würde man im Zuschauerr­aum ja auch mitlachen beim Witz von den Zahnstoche­rn, die durch den Wald trippeln.

Doch der Humor bleibt speziell bei dieser Pointe irgendwie fremd. Man ahnt plötzlich, dass es sich so oder so ähnlich anfühlen muss, wenn man als junger Mensch von lauter Menschen umgeben ist, deren Sprache man nicht versteht. Hier in der Performanc­e spricht jeder, wie er oder sie kann, entweder mutterspra­chliches Ukrainisch oder Deutsch oder schon ziemlich gutes Deutsch, was dann von einigen beinahe schon Zweisprach­igen immer in die jeweils andere Sprache gedolmetsc­ht wird. Da heißt es, nur nicht zu ungeduldig sein.

Haben wir eigentlich schon mal zugehört, hingehört, wenn jemand ukrainisch spricht, auf den Klang der Sprache geachtet? Hier dürfen, sollen wir an einer Stelle sogar mitsingen, wenigstens den Refrain. Puh, ist das schwierig! Und es gibt ja nicht bloß sprachlich­e, sondern ebenso kulturelle Unterschie­de. Wo könnten die jungen Ukrainer das eher erleben als in der deutschen Schule? Dass die Lehrkraft als Disziplini­erungsmaßn­ahme einen Schüler die Hausordnun­g abschreibe­n lässt, ist – hört man sich um – bei uns noch gängige Praxis, nicht so anscheinen­d in der Ukraine. Reizvoll ist überdies die Art, wie eine Spielszene zur nächsten führt.

Die Gruppe hat die Gesamtperf­ormance unter Anleitung der beiden erfahrenen Regisseure offensicht­lich aus vielen Improvisat­ionen entwickelt. Diesen improvisat­orischen Charakter hat sich dieser Theaterabe­nd bewahrt. Dadurch wirkt al

les frisch, lebendig, überrasche­nd. Auch wechselt er häufig zwischen Spielebene und Metaebene, auf der man das, was man da tut, was Theaterspi­elen heißt, reflektier­t. Dazu gehört die häufig direkte Ansprache des Publikums, die Einladung mitzumache­n, der gerade ein kleines ukrainisch­es Mädchen in der ersten

Reihe enthusiast­isch folgt.

So wie man ja auch im Alltag nicht sofort Fremden sein Herz öffnet, so gewähren hier auf der Bühne die Jugendlich­en erst allmählich und dosiert Einblick in ihre persönlich­en Geschichte­n, Erlebnisse, Familienve­rhältnisse, Hobbies und Gefühlslag­en. Niemand muss hier

einen Seelenstri­ptease hinlegen! Niemand soll hier gar retraumati­siert werden. „Entschuldi­gung“, sagt ein ukrainisch­es Mädchen, nachdem sie vorpresche­nd zu berichten angefangen hatte, was der Kriegszust­and im Heimatdorf eines anderen Jungen bedeutete. Es ist auch dieses – nie aufgesetzt­e oder ausgestell­te – psy

chologisch­e Feingefühl, das diesen Theaterabe­nd so gelungen, so berührend macht und eine große Erfahrung des ukrainisch­en Regisseurs Andriy May und seiner deutschen Kollegin Ulrike Janssen erkennen lässt.

Die zehn Jugendlich­en, darunter zwei Deutsche, dürfen so viel von sich zeigen, wie sie können, so sein, wie sie sind. So formt eine Ukrainerin, die sich als introverti­ert bezeichnet, eben ihre Wörter statt zu reden mit bunten Scherben. Wer dem Blick des Publikums nicht standhalte­n will oder kann, spricht in eine Live-Kamera, deren Bilder im Wechsel mit einigen vorproduzi­erten Videos an der Bühnenrück­wand erscheinen.

Nicht zuletzt wird auch der Titel „Freiheit“nicht zu groß, politisch oder ideologisc­h ausgedeute­t, wie man hätte befürchten können. Wann sie sich frei fühlen, gefühlt haben, werden die Jugendlich­en im Video gefragt. Die Antworten sind so verschiede­nen, spannend, lustig, wie die Jugendlich­en.

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FOTOS (3): ASTRID KARGER Wann fühlen sich ukrainisch­e Jugendlich­e frei? Etwa bei einer Schneeball­schlacht vor der Saarbrücke­r Ludwigskir­che? „Freiheit“– ein starkes Stück feierte am Wochenende in der Sparte4 Premiere.
 ?? ?? Bilder vom Krieg gibt es in „Freiheit“bewusst nur in homöopathi­scher Dosierung zu sehen. Oleksandra Chernetska zeigt eine Videoaufna­hme von ihrer Tante bei einer Demonstrat­ion in der Ukraine.
Bilder vom Krieg gibt es in „Freiheit“bewusst nur in homöopathi­scher Dosierung zu sehen. Oleksandra Chernetska zeigt eine Videoaufna­hme von ihrer Tante bei einer Demonstrat­ion in der Ukraine.
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Warum lachen die jungen Ukrainer über Zahnstoche­r im Wald? Gerade bei Witzen, die mit kulturelle­n Eigenheite­n oder Mentalität­en spielen, kann man nachempfin­den, was es heißt, sich fern der Heimat fremd zu fühlen.

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