Was Freisein für junge Ukrainer bedeutet
In der Sparte 4 hat das Dokumentartheaterstück „Freiheit“, das gemeinsam mit jungen Menschen aus der Ukraine entstanden ist, Premiere gefeiert.
Zehn Jugendliche stehen auf der Bühne der Sparte 4 und gucken uns herausfordernd an. „Worauf wartet Ihr?“, sagt das erste Mädchen. „Es ist so langweilig“, sagt das zweite und spricht damit aus, was man als Zuschauer in dem Moment insgeheim denkt. „Wir müssen was machen, die Leute haben Geld bezahlt“, bemerkt ein dritter, einer der beiden Jungs. Na endlich, geht es einem ungeduldig durch den Kopf. Doch dann verlangen die – in unifarbenen T-Shirt und Jeans relativ schlicht gekleideten – Teenies plötzlich laut nach „Fashion-Musik“, Disco-Kugel, Bühnennebel und Licht. Sie stolzieren wie Heidis Topmodels über'n Teppich und kreischen enthusiastisch. Nein, so hatte man sich das nun gar nicht vorgestellt: ein Theaterstück mit aus der Ukraine geflohenen Jugendlichen über sich und ihr neues Leben im saarländischen Exil unter dem gewichtigen Titel „Freiheit“. Aber gerade das ist das Formidable an dieser abendfüllenden Theaterperformance in der Regie von Andriy May und Ulrike Janssen: dass sie unseren Erwartungen nie entspricht. Zu Recht wurde sie bei der Premiere am Freitag gefeiert, von den Deutschen wie den Ukrainern im Publikum gleichermaßen.
So wie schon in den ersten Minuten dürfen wir uns in den nächsten knapp zwei Stunden immer wieder verunsichert fühlen. Meinen sie das jetzt ernst oder ironisch? Das fragt man sich etwa, wenn eine vormacht, dass sie gut turnen kann, oder eine andere wissen will, ob das jetzt „langweilig oder cool“war. Gerne würde man im Zuschauerraum ja auch mitlachen beim Witz von den Zahnstochern, die durch den Wald trippeln.
Doch der Humor bleibt speziell bei dieser Pointe irgendwie fremd. Man ahnt plötzlich, dass es sich so oder so ähnlich anfühlen muss, wenn man als junger Mensch von lauter Menschen umgeben ist, deren Sprache man nicht versteht. Hier in der Performance spricht jeder, wie er oder sie kann, entweder muttersprachliches Ukrainisch oder Deutsch oder schon ziemlich gutes Deutsch, was dann von einigen beinahe schon Zweisprachigen immer in die jeweils andere Sprache gedolmetscht wird. Da heißt es, nur nicht zu ungeduldig sein.
Haben wir eigentlich schon mal zugehört, hingehört, wenn jemand ukrainisch spricht, auf den Klang der Sprache geachtet? Hier dürfen, sollen wir an einer Stelle sogar mitsingen, wenigstens den Refrain. Puh, ist das schwierig! Und es gibt ja nicht bloß sprachliche, sondern ebenso kulturelle Unterschiede. Wo könnten die jungen Ukrainer das eher erleben als in der deutschen Schule? Dass die Lehrkraft als Disziplinierungsmaßnahme einen Schüler die Hausordnung abschreiben lässt, ist – hört man sich um – bei uns noch gängige Praxis, nicht so anscheinend in der Ukraine. Reizvoll ist überdies die Art, wie eine Spielszene zur nächsten führt.
Die Gruppe hat die Gesamtperformance unter Anleitung der beiden erfahrenen Regisseure offensichtlich aus vielen Improvisationen entwickelt. Diesen improvisatorischen Charakter hat sich dieser Theaterabend bewahrt. Dadurch wirkt al
les frisch, lebendig, überraschend. Auch wechselt er häufig zwischen Spielebene und Metaebene, auf der man das, was man da tut, was Theaterspielen heißt, reflektiert. Dazu gehört die häufig direkte Ansprache des Publikums, die Einladung mitzumachen, der gerade ein kleines ukrainisches Mädchen in der ersten
Reihe enthusiastisch folgt.
So wie man ja auch im Alltag nicht sofort Fremden sein Herz öffnet, so gewähren hier auf der Bühne die Jugendlichen erst allmählich und dosiert Einblick in ihre persönlichen Geschichten, Erlebnisse, Familienverhältnisse, Hobbies und Gefühlslagen. Niemand muss hier
einen Seelenstriptease hinlegen! Niemand soll hier gar retraumatisiert werden. „Entschuldigung“, sagt ein ukrainisches Mädchen, nachdem sie vorpreschend zu berichten angefangen hatte, was der Kriegszustand im Heimatdorf eines anderen Jungen bedeutete. Es ist auch dieses – nie aufgesetzte oder ausgestellte – psy
chologische Feingefühl, das diesen Theaterabend so gelungen, so berührend macht und eine große Erfahrung des ukrainischen Regisseurs Andriy May und seiner deutschen Kollegin Ulrike Janssen erkennen lässt.
Die zehn Jugendlichen, darunter zwei Deutsche, dürfen so viel von sich zeigen, wie sie können, so sein, wie sie sind. So formt eine Ukrainerin, die sich als introvertiert bezeichnet, eben ihre Wörter statt zu reden mit bunten Scherben. Wer dem Blick des Publikums nicht standhalten will oder kann, spricht in eine Live-Kamera, deren Bilder im Wechsel mit einigen vorproduzierten Videos an der Bühnenrückwand erscheinen.
Nicht zuletzt wird auch der Titel „Freiheit“nicht zu groß, politisch oder ideologisch ausgedeutet, wie man hätte befürchten können. Wann sie sich frei fühlen, gefühlt haben, werden die Jugendlichen im Video gefragt. Die Antworten sind so verschiedenen, spannend, lustig, wie die Jugendlichen.