Putin und die Klagen der Soldatenfrauen
Russlands Frauen verlangen von Präsident Wladimir Putin die Rückkehr ihrer mobilisierten Männer von der Front. Weil das Regime ihren Protest verhöhnt, werden sie immer radikaler – im Ton. Den Staat bringt der Unmut der „ Aufständischen“in Verlegenheit.
MOSKAU „Die Heimat verteidigen? Ich pfeife auf diese Heimat! Ich will meinen Mann zurück, mit Beinen und Armen, unversehrt!“Maria Andrejewa redet sich in Rage, sie dreht sich einmal zu einer Frau um, einmal zu einer anderen, ihr weißes Kopftuch ist ihr auf die Schultern gerutscht. Die beiden vor ihr versuchen, sie zu beruhigen, mit Sätzen, aus denen so viel patriarchale Missachtung herausspricht, dass es Maria Andrejewa noch aufgebrachter macht. „Männer sind einzigartige Geschöpfe Gottes, als Krieger geschaffen. Wenn Sie ihn zurückholen, verliert er seine Männlichkeit. Beten Sie für ihn“, sagt die Rothaarige und legt ihre Hand auf Andrejewas Kopf. Diese entwindet sich und schreit fast: „Mein Mann hat der Heimat genug geholfen!“
Die Mittdreißigerin ist in den Moskauer Präsidentenstab gekommen, hier können Russinnen und Russen ihre Unterschrift abgeben, damit Wladimir Putin als Präsidentschaftskandidat für die Abstimmung im März registriert wird. Seine Wiederwahl ist zwar bereits gesetzt, aber Unterschriften müssten eben für jeden Anwärter her. So sei das Gesetz, will der Staat seinem Volk vermitteln. Wie er einst auch vermittelt hatte, dass sogenannte „Teilmobilisierte“nach spätestens sechs Monaten Dienst an der Front in der Ukraine nach Hause kämen.
Das Volk nahm es hin, kaufte Thermounterwäsche für die Männer, Väter, Brüder, kaufte schusssichere Westen, schickte Wollsocken an die Front, Kerzen für die Schützengräben, Essen. Es nimmt so ziemlich alles hin. „Wir sind Patrioten! Wir erfüllen unsere Pflicht vor dem Staat! Der Mann ist ein Beschützer! Ein Vaterlandsverteidiger! Das ist unser Schicksal“, lauten die Sätze, mit denen sich Frauen wie Männer meist zu beruhigen wissen. Sie seien ja schließlich „apolitisch“, fügen sie gern hinzu. Auch Maria Andrejewa empfand es als „Ehre“, dass ihr Mann in den Krieg zog – auch wenn sie diesen mit Putins Worten der „militärischen Spezialoperation“bezeichnet –, um die „Heimat zu verteidigen“. Vor wem der gelernte Masseur sie verteidigen sollte, weiß sie allerdings bis heute nicht.
Es sei nun vorbei mit der „Ehre“, sie wolle keine Vergünstigungen für sich und ihre kleine Tochter, sie wolle ihren Frieden, mit dem zurückgekehrten Mann an ihrer Seite. In den Krieg könnten schließlich andere ziehen, Vertragssoldaten, Freiwillige, aber doch nicht ihr Liebster. Seit Oktober 2022, zwei Wochen zuvor hatte Putin seine „Teilmobilisierung“ausgerufen, war er nicht mehr zu Hause in Moskau. Seit September 2023 kämpft Maria Andrejewa mit anderen Frauen von Mobilisierten „für Gerechtigkeit“, wie sie sagt. Im Telegram-Kanal namens „Der Weg nach Hause“posten sie ihre Geschichten, gehen mit Plakaten, die die Rückkehr der Männer einfordern, auf die Straße, legen mittlerweile jeden Samstag Blumen an den Denkmälern ihrer Städte nieder und bitten die Politik um Hilfe.
Da ist Antonina, die ihren Panzerfahrer-Ehemann wegen seiner Magengeschwüre nach Hause holen will. Da ist Paulina, die 20-Jährige mit Kleinkind, die ihren IT-Mann wieder bei sich wissen will und sagt: „Jeder Tag könnte sein letzter sein“. Da ist Jana, die ihren Mann nicht zurückhalten konnte, als der Einberufungsbescheid kam. „Was muss, das muss. Also ging er hin. Dumm natürlich“, sagt sie heute. Da ist Mascha, die ihren Mann im Zinksarg zurückbekam und nun wütend fragt: „Warum gibt es keinen Aufschrei derer, die ihre Liebsten für immer verloren haben?“Kaum eine von ihnen stellt den Krieg grundsätzlich in Frage – ob aus Vorsicht vor den repressiven Gesetzen oder aus Überzeugung – wie auch kaum eine von ihnen das Regime hinterfragt. Sie wollen lediglich, dass es nicht sie und ihre Männer trifft. Manchmal aber klingt der Zweifel an: „Wir irrten uns, indem wir glaubten, Politik gehe uns nichts an. Dann aber kam die Politik zu uns“, sagt eine, die nicht namentlich genannt werden will. Langsam realisieren sie, dass ihre Rechte nichts gelten in Russland.
In ihr „Manifest“haben sie Forderungen wie diese aufgenommen: „Wir sind für die volle Demobilisierung der Zivilbevölkerung. Für die politische Stabilität und ein würdiges Leben eines jeden in Russland, für die Menschenrechte und einen Rechtsstaat. Wir sind gegen die legalisierte Knechtschaft. Gegen das Schweigen der Führung. Gegen die Haltung zu Menschen als Verbrauchsmaterial.“Sie sind nicht das einzige Sprachrohr für die Angehörigen von Mobilisierten, auch Telegram-Kanäle wie „Wir holen die Jungs zurück“oder „Wir sind zusammen“sammeln Aufrufe von Frauen. „Der Weg nach Hause“aber – die Administratorinnen halten sich bedeckt – ist mit knapp 40 000 Abonnentinnen und Abonnenten der bislang größte und öffentlich aktivste.
Doch Abgeordnete, Minister, auch der Kreml lassen die Frauen stehen. Lediglich der – noch nicht als Präsidentschaftskandidat registrierte – Systemoppositionelle Boris Nadeschdin hatte sich kürzlich in einem Moskauer Loft mit den Frauen getroffen. Dabei ging es dem Mann allerdings mehr um seine Selbstinszenierung als „Patriot und Kriegsgegner“, als um die Anliegen der wenigen Frauen, die gekommen waren.
Doch immerhin: Der Staat ließ sie gewähren. Für die Propagandisten sind die Frauen „Feindinnen“, „Verräterinnen“, „Provokateurinnen“, von westlichen Geheimdiensten ins Leben gerufen und bezahlt. Es ist die übliche Diffamierungskampagne für jeden, der das Regime, womit auch immer, kritisiert.
Putin geht auf keine ihrer Fragen ein, trinkt lieber Tee mit ausgesuchten Frauen von Gefallenen in seiner Residenz, erklärt ihnen, dass ihre Männer „Helden“seien, die „nicht sinnlos“ihr Leben verloren hätten. Er lässt zum orthodoxen Weihnachtsfest Kinder von Gefallenen in seinem Pferdestall die Tiere streicheln, lässt seine Funktionäre Plüschtiere verteilen und ein paar Tausend Rubel für die „Annehmlichkeiten“der Familien. Bei seiner Pressekonferenz im Dezember sagte Putin, eine „zweite Welle der Mobilisierung“werde es nicht geben, eine Perspektive für die „erste Welle“gab er nicht. Das Jahr 2024 erklärte der russische Präsident fast im gleichen
Atemzug zum „Jahr der Familie“. Andrej Kartapolow, der Abgeordnete im Verteidigungsausschuss der Duma, erläuterte gar, die Männer kämen erst heim, wenn die „militärische Spezialoperation“beendet sei.
Für die aufständischen Frauen der Mobilisierten klingt das wie Hohn. „Wir sind denen egal, wir existieren nicht für sie, sie haben uns und unseren Männern das Leben gestohlen“, sagt eine von ihnen. Maria Andrejewa schimpft: „Herr Präsident, schämen Sie sich nicht? Sie haben Ihre Würde verloren. Wollen Sie sich noch weiter blamieren?“Ihre Vorsicht lässt nach, ihre Radikalität nimmt mit jedem ihrer Auftritte zu. „Wir haben Fragen. Und wir wollen, dass diese Fragen gehört werden. Was haben unsere Männer sich zuschulden kommen lassen, dass sie so behandelt werden?“, fragt Maria Andrejewa beim Treffen mit dem Möchtegern-Präsidenten Nadeschdin. Doch selbst solche Zusammenkünfte wie diese fallen nach russischer Rechtsprechung bereits unter den Paragrafen der „Diskreditierung der russischen Armee“und könnten mit einer Haft enden.
Die Behörden sind längst aufmerksam geworden auf die Aufmüpfigen. Ihre Blumenniederlegungen werden von Polizisten des sogenannten „Zentrum E“gefilmt, einer Einheit für Extremismusbekämpfung, die oft auf Oppositionelle angesetzt wird. Der Inlandsgeheimdienst FSB habe einige von ihnen zur Befragung abgeholt, ihre Männer würden von den Kommandierenden an der Front unter Druck gesetzt, berichten die Frauen. Der Unmut der Angehörigen bringt den Staat in Verlegenheit. Sie sind Putins Stammwählerschaft, die meisten von ihnen stehen nach wie vor hinter der Entscheidung Putins zum Krieg. Sie sind das, was der russische Präsident gern als „das tiefe russische Volk“bezeichnet. Menschen, die sich jahrelang, nahezu fraglos der Losung des Kremls unterwarfen: „Wir sorgen für euer Wohl und ihr haltet euch aus der Politik heraus“. Nun hat der Staat diesen Frauen nichts anzubieten. Das macht ihren Protest unberechenbar und so kurz vor der „Wahl“zu einem Risiko.
„Wir haben Fragen. Und wir wollen, dass diese Fragen gehört werden.“Maria Andrejewa über den Kriegseinsatz ihres Mannes für die russische Armee im Angriffskrieg gegen die Ukraine