Dreistigkeit siegt nicht immer
Dreistheit wird bei den Brüdern Grimm einerseits als „mutige Entschlossenheit“beschrieben, andererseits als Frechheit, Unverschämtheit, Anmaßung. Man begegnet ihr im privaten Umfeld wie im öffentlichen Leben. Wenn Leute an Warteschlangen vorbeimarschieren, als verstünden sie deren Sinn nicht. Oder wenn öffentliche Personen wie der frühere US-Präsident Donald Trump nicht etwa kleinlaut Rede und Antwort stehen, wenn sie wegen möglichen Betrugs vor Gericht stehen, sondern wild den Richter beschimpfen.
Dreistigkeit siegt, heißt es dann oft. Jeder kennt Situationen, in denen Leute, die keine Hemmungen kennen, nur ihre Interessen, am Ende bekommen, was sie wollen. Im Privaten mag man das schulterzuckend akzeptieren. Auf den Weltbühnen erscheint es bedenklich, wenn sich die Rüpel durchsetzen. Denn auf lange Sicht kann es im Miteinander von Nationen wie in Gesellschaften nur vorangehen, wenn es einen fairen Interessensausgleich gibt. Und wenn sich aus dem Wettbewerb von Ideen die besten durchsetzen, nicht jene, die am lautesten vorgetragen werden. Nur dann können auch Gesellschaften ihre Problemlösungskapazitäten frei entfalten. Doch dafür braucht es Menschen, die zum Perspektivwechsel in der Lage sind. Es ist also im Interesse aller, Dreistigkeit nicht siegen zu lassen, auch wenn die Dreisten es darauf anlegen – und das Zurückschrecken der anderen einkalkulieren.
Das bedeutet aber auch, dass Zurückhaltung nicht immer angesagt ist. Auch für dezente Menschen gibt es Momente, in denen sie für sich und ihr Können einstehen sollten. Zum Wohle aller. Um das zu üben, soll es helfen, wenn zurückhaltende Menschen mindestens zehn positive Eigenschaften an sich selbst benennen können. Das zwingt sie dazu, sich ihre Stärken bewusst zu machen. Und im entscheidenden Moment auch vorzutreten und sich zu beweisen. Wie weit die Dreisten kommen, entscheidet sich auch daran, wie weit die Stillen sie kommen lassen.
UnsereDAutorin ist Redakteurin der Rheinischen Post.