Frau Orlinski tut Gutes, und alle machen Kunst
„Kunst im Werk“heißt ein neues Projekt der überaus vielseitigen Saarbrücker Künstlerin Annette Orlinski. Sie kommt in die Betriebe, schaut, was da so an Material rumliegt und holt dann alle aus der Firma für ein Kunstwerk dazu. Am Ende profitieren davon auch die Kinder krebskranker Eltern.
SAARBRÜCKEN Als Anette Orlinski vor drei Jahren im Corona-Lockdown saß, also als Künstlerin arbeitslos war, begann sie mal, zu rechnen. Ihr persönliches kreatives Hamsterrad war von jetzt auf gleich zum Stillstand gekommen, sie hatte die Muße, zurückzuschauen auf das, was sie in den Jahren zuvor so alles gemacht hatte. Und sie erschrak ein bisschen vor sich selbst. „Ich hatte über 50 000 Menschen in Projekten gesehen“, stellte sie fest.
Seit Anfang der 2000er-Jahre war sie unermüdlich unterwegs. Sie arbeitete künstlerisch mit den verschiedensten Menschen. Mit Schwerstbehinderten und mit Autisten ließ sie Kunst entstehen, sie stemmte multikulturelle Großprojekte, sie war gefühlt ständig in irgendwelchen kreativ-sozialen Angeboten anzutreffen. Und nebenbei kamen noch um die 60 Leute pro Woche zu den Malkursen in ihrem Atelier.
„Es gab Wochen, da habe ich 600 Leute getroffen“, sagt sie beim Besuch in der SZ, schüttelt über sich selbst den Kopf, und ihr hoher Dutt wippt dazu. Die markante Frisur ist fast schon eine Art Markenzeichen, an dem wahrscheinlich jeder Mensch, der in Saarbrücken und darüber hinaus auch nur ein bisschen an Kunst und Soziokultur interessiert ist, Anette Orlinski erkennt. Sie und ihr Dutt waren jahrelang quasi omnipräsent.
Dazu muss man wissen, dass die studierte Kommunikationsdesignerin all ihre kreative Arbeit bis 2018 auch noch quasi nebenberuflich machte. Sie war nämlich zwölf Jahre lang gleichzeitig Leiterin des „Visual Merchandising“zweier H&M-Filialen, fuhr auch noch dauernd zwischen Saarbrücken und Kaiserslautern hin und her und sorgte für die verkaufsfördernde Präsentation der Ware. „Fragen Sie nicht, wie ich das hingekriegt habe“, sagt sie und lacht, „das war die Anette von früher“.
Die Anette von heute lässt es ein bisschen langsamer angehen. Zum einen gezwungenermaßen, weil für einige ihrer Kunstprojekte, insbesondere in Kliniken und ähnlichen Einrichtungen, keine Mittel mehr da sind. Beziehungsweise auch einfach, weil einige der Träger, wie sie es sagt, gerade andere Prioritäten setzen. Es gibt zu wenig Personal, alles kostet, da fällt die Kunst schon mal aus. Zu Orlinskis großem Bedauern. Denn in ihren Hamsterrad-Jahren hat die 47-Jährige immer wieder erlebt, wie sehr künstlerische Ausdrucksmöglichkeiten gerade Menschen helfen, die so ein bisschen aus der allgemeinen gesellschaftlichen Norm herausfallen.
Der Rückgang bei ihren soziokulturellen Projekten und der Entschluss, kürzerzutreten, bedeuten nun aber nicht, dass Annette Orlinski nur noch mit ihrem VW-Bus namens Ferdinand durch die Welt fährt. Auch die NachCorona-Annette hat viele Ideen und Pläne. Und aktuell ein ganz neues Projekt – das andererseits eines ihrer ältesten ist. „Ich habe über sowas schon nachgedacht, als ich während des Studiums bei Bosch am Fließband gearbeitet habe“.
Da nämlich fiel ihr bereits auf, wie viele Abfallprodukte bei so einer Produktion anfallen. Material, das niemand mehr benutzt. Es wandert normalerweise auf den Müll oder liegt jahrelang irgendwo in der Ecke der Werkstatt herum. Annette Orlinski hatte daraufhin eine Idee, bei der Kunst, Arbeitsmarkt und Karitatives zusammenkommen. Und zugleich Produktionsabfall genutzt wird. Quasi vier gute Werke in einem, eine Art soziokulturelles Upcycling.
„Kunst im Werk“heißt das Projekt und richtet sich an Firmen im Saarland, die etwas für den Zusammenhalt ihrer Belegschaft tun und dabei auch noch die Krebshilfe unterstützen wollen. Das Ganze ist zunächst mal als Teambuilding-Projekt angelegt, also als gemeinsame Aktion, damit alle im Betrieb sich besser verstehen. Der Weg dahin führt über ein Kunstprojekt. Ein gemeinsames Kunstwerk soll entstehen – und zwar aus dem aussortierten Material, dem Ausschuss, allem, was im Betrieb ungenutzt herumliegt oder weggeworfen werden soll.
Orlinskis erster Kunde war der Fliesenmeisterbetrieb Becker & Hübschen in Bischmisheim. Hier entstand im gemeinsamen Zusammenwirken aller ein fröhliches Wandbild – natürlich überwiegend aus Fliesenresten. Wie das Ganze am Ende aussieht, ist dabei nicht vorrangig. „Ich konzipiere nicht ein Kunstwerk, sondern nehme die Personen mit, die da arbeiten“, sagt Orlinski, „ich bin nur ein Teil davon“. Entscheidend sei, „das positive Gefühl, das diese Wand ausstrahlt“, weil jeder und jede dazu beigetragen hat. „Es ist nicht wichtig, was für ein Werk rauskommt, sondern die Gruppendynamik“.
Bei der Industrie- und Handelskammer (IHK) hat Orlinski, die übrigens auch noch ausgebildete technische Zeichnerin ist, ihre „Kunst im Werk“kürzlich vorgestellt. Die Resonanz war positiv. Schon in wenigen Wochen beginnt sie eine Arbeit bei einem großen Betrieb und hat mehrere Anfragen. Schließlich können in Zeiten des Fachkräftemangels Betriebe ohne gutes Betriebsklima nur noch schwer punkten. Da ist es gut, wenn man was dafür tut, dass alle im Betrieb sich gesehen fühlen – von der Putzkolonne bis zur Geschäftsführung sollen idealerweise alle dabei sein.
Was „Kunst im Werk“aber zusätzlich so besonders macht: Es ist auch ein karitatives Projekt. Der weitaus überwiegende Teil des Geldes, das die Firmen dafür bezahlen, landet am Ende nicht etwa bei Orlinski, sondern bei der saarländischen Krebsgesellschaft. Ein Drittel des Geldes geht dabei als direkte Zahlung an das Projekt Regenbogen für Kinder von an Krebs erkrankten Eltern. Und ein Drittel spendet Orlinski ihrerseits in Form von kostenlosen Kunstthera
„Ohne soziales Engagement kann ich nicht arbeiten.“Annette Orlinski
piestunden für betroffene Familien. Nur ein Drittel ist ihr Verdienst für ihre Arbeit in den Firmen.
Unternehmen, die „Kunst im Werk“buchen, entscheiden dabei selbst, wie viel sie zahlen wollen. Jeder soll im Rahmen seiner finanziellen Möglichkeiten bleiben, „es muss nur durch drei teilbar sein“, sagt Orlinski.
Warum hat sich die Künstlerin für dieses soziokulturelle Modell entschieden? „Kunst im Werk“könnte wohl recht problemlos auch so Interessenten finden. Aber nur Geldverdienen war und ist einfach nicht Orlinskis Ding. Ihr ganzes Künstlerinnen-Leben schon verbindet sie mit ihrem Bedürfnis zu helfen. „Meine tägliche Motivation ist, Menschen mit meinen Talenten und meiner langjährigen Erfahrung auf ihrem Lebensweg zu begleiten“, schreibt sie in einem kleinen Film, den sie über ihr „Kunst im Werk“-Projekt erstellt hat. Und sagt im SZ-Gespräch: „Ohne soziales Engagement kann ich nicht arbeiten“. So einfach ist das. Und so besonders.
Kontakt und Infos: (0172) 17 88 89 5 oder kontakt@annette-orlinski.de. www.kokon-werkstatt.de www.freiraummacherin.de www.annette-orlinski-art.de