„Dann sind wir jetzt eben zu fünft“
Das Projekt „Leben in Gastfamilien“bietet Menschen mit Beeinträchtigung eine selbstbestimmte Wohnform. Auch Daniela Schohl und ihre Familie aus Oberthal haben zwei Frauen aufgenommen. Gemeinsam erzählen sie von ihrem Alltag.
OBERTHAL/SAARBRÜCKEN Einkäufe, Behördengänge, die tägliche Versorgung: Den Alltag zu meistern, kann für Menschen mit einer geistigen, psychischen oder körperlichen Beeinträchtigung zu einer Herausforderung werden. Viele brauchen Unterstützung und Begleitung. Und wollen dennoch ein selbstbestimmtes Leben führen.
So auch Inge Schneider und Sumire Fischer (Namen von der Redaktion geändert). Beide leben mit einer psychischen Beeinträchtigung. Das heißt, eine psychische Erkrankung hat sich bei ihnen langfristig derart manifestiert, dass sie Schwierigkeiten haben, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen und sich zu versorgen. Seit gut einem Jahr leben die beiden Frauen nun allerdings in einer gemeinsamen Wohnung im Obergeschoss eines Hauses in Oberthal. Jede hat dort ein eigenes Zimmer, die Abende verbringen sie gemeinsam auf der Couch, manchmal kochen sie in der kleinen Küche einfache Gerichte. Unterstützung finden sie indes eine Etage tiefer, im Erdgeschoss. Dort leben nämlich Daniela Schohl, Florian Zapp sowie die gemeinsame Tochter Nele. Die Gastfamilie der beiden Damen.
Bereits seit 25 Jahren organisieren die Caritas, das Diakonische Werk, die Lebenshilfe Saarbrücken und die Gemeinnützige Gesellschaft für Paritätische Sozialarbeit gemeinsam das Projekt „Begleitetes Wohnen in Gastfamilien“. Dieses vermittelt erwachsene beeinträchtige Menschen, die sich eine alternative, individuelle Wohnform wünschen, in Familien, die einerseits Platz und andererseits, noch wichtiger, Lust haben, einen Menschen in ihren Alltag aufzunehmen. „Im familiären Umfeld können zum Beispiel alltagspraktische Fähigkeiten neu oder wieder erlernt werden“, betont ein Sprecher des Caritasverbandes Schaumberg-Blies, der in den Landkreisen St. Wendel und Neunkirchen für das Projekt zuständig ist. So könnten die Lebensqualität und die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben verbessert werden.
Eine Erfahrung, die auch Sumire Fischer gemacht hat. Nach der Trennung von ihrem Mann legten ihr ihre Betreuerin und Ärzte das Gastfamilien-Wohnprojekt ans Herz. Am Anfang sei es schlimm gewesen, es sei ihr nicht gut gegangen, eigentlich habe sie gar nichts gekonnt, erzählt die gebürtige Thailänderin in gebrochenem Deutsch. „Aber jetzt, jetzt ist alles gut“, betont sie, nicht ohne ein breites Grinsen in Richtung Daniela Schohl zu werfen. Zum Gespräch haben sich alle im Esszimmer des Obergeschosses zusammengefunden. „Beim Kennenlernen hat direkt alles gepasst, wir haben eine Stunde geredet, danach hat Sumire hier 14 Tage probegewohnt und dann ist sie relativ schnell auch dauerhaft eingezogen“, erklärt Daniela Schohl.
Dennoch: „Zuhause hatte Sumire ihre Kinder um sich, hat gekocht, war beschäftigt“, ergänzt sie, „das war natürlich erst einmal eine riesen Umstellung.“Und auch für Schohl und ihre Familie war die Aufnahme von Sumire Fischer zunächst einmal eine Herausforderung. „Am Anfang habe ich mir richtigen Kopfstress gemacht“, erinnert sich Daniela Schohl, „das waren ja zwei Welten, die da aufeinander geprallt sind, zwei Kulturen.“Schon an der Frage, was sie überhaupt kochen soll, habe sie sich damals den Kopf zerbrochen. Gut zweieinhalb Jahre ist das jetzt her. Heute laufe das alles wie geschmiert: „Wir gehen zusammen einkaufen, wir kochen zusammen, wir machen Ausflüge“, sagt Daniela Schohl, „irgendwann haben wir uns eingespielt“. Man wachse da rein, sagt sie. Und: „Heute ist das alles ganz normal für uns, wie in einer normalen Familie eben.“
Mit dem familiären Alltag und den festen Strukturen kam bei Sumire Fischer auch die Lebensfreude zurück. Heute kann sie sogar wieder einer Arbeit nachgehen. Dass es ihr so viel besser geht, hat Sumire Fischer dabei nicht nur Daniela Schohl und ihrer Familie zu verdanken, sondern auch dem Einzug von Inge Schneider vor gut einem Jahr. „Die beiden sind einfach ein perfektes Match“, weiß Daniela Schohl zu berichten. Dass das Verhältnis zwischen den Gästen passt, war ohnehin die oberste Priorität. „Wir hatten auch einen Mann zum Probewohnen da“, sagt Florian Zapp, „mit dessen Gewohnheiten kam Sumire allerdings nicht so gut klar, da mussten wir dann eben sagen ‚Sorry, das passt nicht'.“Zwischen Sumire Fischer und Inge Schneider passte es hingegen direkt. „In der Nähe gibt es Weiher, da spazieren wir oft zusammen hin“, erzählt Schneider, „oder wir gehen mal etwas essen.“
Wenn Inge Schneider und Sumire Fischer gemeinsam auf Tour gehen, geben sie ihrer Gastfamilie Bescheid. So wie auch Daniela Schohl und ihre Familie die Frauen informieren, wenn sie irgendwo verabredet sind. „So läuft das im Idealfall in normalen Familien ja auch“, sagt sie. Und: „Klar, wir begehen unseren Alltag zusammen, aber trotzdem gibt es Rückzugsmöglichkeiten und Privatsphäre. Und zwar für beide Seiten.“In ihrem speziellen Fall sei das in besonderem Maße auch räumlich gegeben. „Eigentlich ist die Anforderung an Familien ja, den Gästen ein eigenes Zimmer bereitstellen zu können, Küche, Bad und Wohnbereich werden dann zusammen genutzt“, erklärt Schohl, „bei uns haben die zwei eben eine ganze Wohnung.“
„Wir haben damals das Haus gekauft, das für uns allein eigentlich zu groß war“, sagt Daniela Schohl. Eine gute Freundin von ihr beherberge schon länger zwei beeinträchtigte Männer, daher habe sie das Gastfamilien-Projekt gekannt. Und sich dann relativ schnell bei der Caritas gemeldet. „Uns war selbstverständlich auch wichtig, dass unsere Tochter Nele damit einverstanden ist“, ergänzt Florian Zapp. „Ich bin froh, dass die beiden da sind“, wirft die Elfjährige schnell ein, „es ist ganz normal geworden, jetzt sind wir eben zu fünft.“
Gerade im Freundeskreis habe es damals viele Zweifler gegeben, erinnert sich Daniela Schohl. „Viele haben gefragt: ‚Wollt ihr euch das wirklich antun?'.“Sie ergänzt: „Heute kennen Sumire und Inge den ganzen Freundeskreis, man grüßt und spricht auf der Straße.“Um ein wissendes Schmunzeln kommt sie dabei nicht umhin. „Es gibt da einfach furchtbar viele Vorurteile“, sagt sie, „dabei ist es bei weitem nicht so schlimm, so herausfordernd, wie man sich das vielleicht vorstellt.“Außerdem habe man immer jemanden an der Hand, sowohl Caritas-Mitarbeiter oder die Betreuer schauten regelmäßig vorbei. „Und wenn irgendwas ist, kann man die
auch kontaktieren“, ergänzt Schohl.
Wenn sie und ihre Familie Urlaub machen, machen Inge Schneider und Surime Fischer übrigens auch Urlaub. In einer anderen Gastfamilie. „Auch dort wird vorher probegewohnt, um sicherzustellen, dass es passt“, erklärt Daniela Schohl. Am schönsten sei es aber immer zu Hause, bei Florian Zapp und Daniela und Nele Schohl, gibt Inge Schneider zu bedenken. „Hier bin ich willkommen, hier lebe ich in der richtigen Atmosphäre“, sagt Schneider mit feucht-glänzenden Augen.