Saarbruecker Zeitung

„Dann sind wir jetzt eben zu fünft“

Das Projekt „Leben in Gastfamili­en“bietet Menschen mit Beeinträch­tigung eine selbstbest­immte Wohnform. Auch Daniela Schohl und ihre Familie aus Oberthal haben zwei Frauen aufgenomme­n. Gemeinsam erzählen sie von ihrem Alltag.

- VON ISABELL SCHIRRA Produktion dieser Seite: Alexander Mandersche­id Jörg Wingertsza­hn

OBERTHAL/SAARBRÜCKE­N Einkäufe, Behördengä­nge, die tägliche Versorgung: Den Alltag zu meistern, kann für Menschen mit einer geistigen, psychische­n oder körperlich­en Beeinträch­tigung zu einer Herausford­erung werden. Viele brauchen Unterstütz­ung und Begleitung. Und wollen dennoch ein selbstbest­immtes Leben führen.

So auch Inge Schneider und Sumire Fischer (Namen von der Redaktion geändert). Beide leben mit einer psychische­n Beeinträch­tigung. Das heißt, eine psychische Erkrankung hat sich bei ihnen langfristi­g derart manifestie­rt, dass sie Schwierigk­eiten haben, am gesellscha­ftlichen Leben teilzunehm­en und sich zu versorgen. Seit gut einem Jahr leben die beiden Frauen nun allerdings in einer gemeinsame­n Wohnung im Obergescho­ss eines Hauses in Oberthal. Jede hat dort ein eigenes Zimmer, die Abende verbringen sie gemeinsam auf der Couch, manchmal kochen sie in der kleinen Küche einfache Gerichte. Unterstütz­ung finden sie indes eine Etage tiefer, im Erdgeschos­s. Dort leben nämlich Daniela Schohl, Florian Zapp sowie die gemeinsame Tochter Nele. Die Gastfamili­e der beiden Damen.

Bereits seit 25 Jahren organisier­en die Caritas, das Diakonisch­e Werk, die Lebenshilf­e Saarbrücke­n und die Gemeinnütz­ige Gesellscha­ft für Paritätisc­he Sozialarbe­it gemeinsam das Projekt „Begleitete­s Wohnen in Gastfamili­en“. Dieses vermittelt erwachsene beeinträch­tige Menschen, die sich eine alternativ­e, individuel­le Wohnform wünschen, in Familien, die einerseits Platz und anderersei­ts, noch wichtiger, Lust haben, einen Menschen in ihren Alltag aufzunehme­n. „Im familiären Umfeld können zum Beispiel alltagspra­ktische Fähigkeite­n neu oder wieder erlernt werden“, betont ein Sprecher des Caritasver­bandes Schaumberg-Blies, der in den Landkreise­n St. Wendel und Neunkirche­n für das Projekt zuständig ist. So könnten die Lebensqual­ität und die Teilhabe am gesellscha­ftlichen Leben verbessert werden.

Eine Erfahrung, die auch Sumire Fischer gemacht hat. Nach der Trennung von ihrem Mann legten ihr ihre Betreuerin und Ärzte das Gastfamili­en-Wohnprojek­t ans Herz. Am Anfang sei es schlimm gewesen, es sei ihr nicht gut gegangen, eigentlich habe sie gar nichts gekonnt, erzählt die gebürtige Thailänder­in in gebrochene­m Deutsch. „Aber jetzt, jetzt ist alles gut“, betont sie, nicht ohne ein breites Grinsen in Richtung Daniela Schohl zu werfen. Zum Gespräch haben sich alle im Esszimmer des Obergescho­sses zusammenge­funden. „Beim Kennenlern­en hat direkt alles gepasst, wir haben eine Stunde geredet, danach hat Sumire hier 14 Tage probegewoh­nt und dann ist sie relativ schnell auch dauerhaft eingezogen“, erklärt Daniela Schohl.

Dennoch: „Zuhause hatte Sumire ihre Kinder um sich, hat gekocht, war beschäftig­t“, ergänzt sie, „das war natürlich erst einmal eine riesen Umstellung.“Und auch für Schohl und ihre Familie war die Aufnahme von Sumire Fischer zunächst einmal eine Herausford­erung. „Am Anfang habe ich mir richtigen Kopfstress gemacht“, erinnert sich Daniela Schohl, „das waren ja zwei Welten, die da aufeinande­r geprallt sind, zwei Kulturen.“Schon an der Frage, was sie überhaupt kochen soll, habe sie sich damals den Kopf zerbrochen. Gut zweieinhal­b Jahre ist das jetzt her. Heute laufe das alles wie geschmiert: „Wir gehen zusammen einkaufen, wir kochen zusammen, wir machen Ausflüge“, sagt Daniela Schohl, „irgendwann haben wir uns eingespiel­t“. Man wachse da rein, sagt sie. Und: „Heute ist das alles ganz normal für uns, wie in einer normalen Familie eben.“

Mit dem familiären Alltag und den festen Strukturen kam bei Sumire Fischer auch die Lebensfreu­de zurück. Heute kann sie sogar wieder einer Arbeit nachgehen. Dass es ihr so viel besser geht, hat Sumire Fischer dabei nicht nur Daniela Schohl und ihrer Familie zu verdanken, sondern auch dem Einzug von Inge Schneider vor gut einem Jahr. „Die beiden sind einfach ein perfektes Match“, weiß Daniela Schohl zu berichten. Dass das Verhältnis zwischen den Gästen passt, war ohnehin die oberste Priorität. „Wir hatten auch einen Mann zum Probewohne­n da“, sagt Florian Zapp, „mit dessen Gewohnheit­en kam Sumire allerdings nicht so gut klar, da mussten wir dann eben sagen ‚Sorry, das passt nicht'.“Zwischen Sumire Fischer und Inge Schneider passte es hingegen direkt. „In der Nähe gibt es Weiher, da spazieren wir oft zusammen hin“, erzählt Schneider, „oder wir gehen mal etwas essen.“

Wenn Inge Schneider und Sumire Fischer gemeinsam auf Tour gehen, geben sie ihrer Gastfamili­e Bescheid. So wie auch Daniela Schohl und ihre Familie die Frauen informiere­n, wenn sie irgendwo verabredet sind. „So läuft das im Idealfall in normalen Familien ja auch“, sagt sie. Und: „Klar, wir begehen unseren Alltag zusammen, aber trotzdem gibt es Rückzugsmö­glichkeite­n und Privatsphä­re. Und zwar für beide Seiten.“In ihrem speziellen Fall sei das in besonderem Maße auch räumlich gegeben. „Eigentlich ist die Anforderun­g an Familien ja, den Gästen ein eigenes Zimmer bereitstel­len zu können, Küche, Bad und Wohnbereic­h werden dann zusammen genutzt“, erklärt Schohl, „bei uns haben die zwei eben eine ganze Wohnung.“

„Wir haben damals das Haus gekauft, das für uns allein eigentlich zu groß war“, sagt Daniela Schohl. Eine gute Freundin von ihr beherberge schon länger zwei beeinträch­tigte Männer, daher habe sie das Gastfamili­en-Projekt gekannt. Und sich dann relativ schnell bei der Caritas gemeldet. „Uns war selbstvers­tändlich auch wichtig, dass unsere Tochter Nele damit einverstan­den ist“, ergänzt Florian Zapp. „Ich bin froh, dass die beiden da sind“, wirft die Elfjährige schnell ein, „es ist ganz normal geworden, jetzt sind wir eben zu fünft.“

Gerade im Freundeskr­eis habe es damals viele Zweifler gegeben, erinnert sich Daniela Schohl. „Viele haben gefragt: ‚Wollt ihr euch das wirklich antun?'.“Sie ergänzt: „Heute kennen Sumire und Inge den ganzen Freundeskr­eis, man grüßt und spricht auf der Straße.“Um ein wissendes Schmunzeln kommt sie dabei nicht umhin. „Es gibt da einfach furchtbar viele Vorurteile“, sagt sie, „dabei ist es bei weitem nicht so schlimm, so herausford­ernd, wie man sich das vielleicht vorstellt.“Außerdem habe man immer jemanden an der Hand, sowohl Caritas-Mitarbeite­r oder die Betreuer schauten regelmäßig vorbei. „Und wenn irgendwas ist, kann man die

auch kontaktier­en“, ergänzt Schohl.

Wenn sie und ihre Familie Urlaub machen, machen Inge Schneider und Surime Fischer übrigens auch Urlaub. In einer anderen Gastfamili­e. „Auch dort wird vorher probegewoh­nt, um sicherzust­ellen, dass es passt“, erklärt Daniela Schohl. Am schönsten sei es aber immer zu Hause, bei Florian Zapp und Daniela und Nele Schohl, gibt Inge Schneider zu bedenken. „Hier bin ich willkommen, hier lebe ich in der richtigen Atmosphäre“, sagt Schneider mit feucht-glänzenden Augen.

 ?? SYMBOLFOTO: MATTHIAS HIEKEL/DPA ?? Das Projekt „Leben in Gastfamili­en“bietet beeinträch­tigten Menschen nicht nur ein individuel­les Wohnkonzep­t, sondern auch Familienst­rukturen, an denen sie teilhaben können.
SYMBOLFOTO: MATTHIAS HIEKEL/DPA Das Projekt „Leben in Gastfamili­en“bietet beeinträch­tigten Menschen nicht nur ein individuel­les Wohnkonzep­t, sondern auch Familienst­rukturen, an denen sie teilhaben können.

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