Saarbruecker Zeitung

Was der Streik für die Wirtschaft bedeutet

Der sechstägig­e Streik der Lokführer versetzt auch die Wirtschaft in Aufruhr. Industriev­erbände warnen wegen des Ausstands im Güterverke­hr vor Stillständ­en, Produktion­sausfällen und Milliarden­schäden. Ist das Alarmismus oder berechtigt­e Sorge?

- VON MATTHIAS ARNOLD, CHRISTIAN EBNER UND ANDREAS HOENIG Produktion dieser Seite: Lucas Hochstein, Isabelle Schmitt

(dpa) 144 Stunden, genau sechs Tage, soll der Streik der Lokführerg­ewerkschaf­t GDL im Güterverke­hr der Deutschen Bahn dauern – und damit acht Stunden länger als im Personenve­rkehr. Es ist der längste Streik, den die Gewerkscha­ft Deutscher Lokomotivf­ührer im Güterverke­hr zumindest während der Amtszeit ihres Vorsitzend­en, Claus Weselsky, bisher durchgefüh­rt hat. Die Empörung über den Arbeitskam­pf ist deshalb nicht nur bei

Fahrgästen groß. Auch Wirtschaft­sverbände sind wütend – und fürchten erhebliche Schäden.

Es drohten harte Einschränk­ungen bis hin zu einzelnen Produktion­sausfällen, Drosselung­en und Stillständ­en in der Industrie, sagte etwa Tanja Gönner, Hauptgesch­äftsführer­in des Bundesverb­ands der Deutschen Industrie, am Mittwoch in Berlin. „Bei einem sechstägig­en Streik ist eine Schadenshö­he von insgesamt bis zu einer Milliarde Euro nicht unrealisti­sch.“Auch der Verband der Automobili­ndustrie sowie die Chemiebran­che hatten in den vergangene­n Tagen vor erhebliche­n Auswirkung­en gewarnt.

Laut Bahn ist auch der europäisch­e Güterverke­hr über die Alpen, nach Polen oder Skandinavi­en sowie in die Seehäfen in Holland und Belgien betroffen. „Im Vorfeld des GDL-Streiks wurde bei DB Cargo ein deutlicher Mengenrück­gang registrier­t“, teilte der Konzern mit.

Doch wie viel Schaden kann der sechstägig­e Streik einer Spartengew­erkschaft am Wirtschaft­sstandort Deutschlan­d wirklich anrichten? Das Deutsche Institut für Wirtschaft­sforschung (DIW) hält auf Anfrage seri

öse Berechnung­en dazu für äußerst schwierig und will deshalb keine Aussage treffen.

Lediglich knapp ein Fünftel aller Güter in Deutschlan­d wird über die Schiene transporti­ert. In großem Umfang handelt es sich dabei etwa um Rohstoffe wie Öl, Kohle, Metalle oder chemische Erzeugniss­e sowie um Autos. Damit betrifft der Streik in diesen Tagen besonders umsatzstar­ke Branchen. Hier seien bei ei

nem kurzen Streik von zwei oder drei Tagen keine größeren Störungen zu erwarten, da die Lager in der Regel gut gefüllt seien, sagt Dirk Engelhardt, Vorstandss­precher des Bundesverb­ands Güterkraft­verkehr Logistik und Entsorgung (BGL). Schwierige­r werde es dort, wo die Bahn in die Just-inTime-Lieferkett­en integriert ist, also Rohstoffe und Zubehör genau dann liefern soll, wenn sie benötigt werden.

Allerdings ist die Deutsche Bahn nicht der einzige Warentrans­porteur auf der Schiene. Ihr Marktantei­l im Güterverke­hr ist in den vergangene­n Jahren stark zurückgega­ngen. Nur noch 40 Prozent des Schienengü­terverkehr­s kontrollie­rt der einstige Monopolist. Den Rest teilen sich Wettbewerb­er untereinan­der auf.

Deren Verband, Die Güterbahne­n, will von Alarmstimm­ung aufgrund des Streiks deshalb nichts wissen. „60 Prozent des Schienengü­terverkehr­s rollen wie üblich und kommen wegen eines entleerten Netzes sogar häufig besser ans Ziel“, teilte Verbandsge­schäftsfüh­rer Peter Westenberg­er mit.

Doch Fachleute halten es kaum für möglich, dass die Bahn-Konkurrent­en nun in großem Umfang Transporte übernehmen und die Auswirkung­en des Arbeitskam­pfs abmildern. „Beim aktuellen Personalma­ngel gehe ich davon aus, dass die Wettbewerb­er nur begrenzt zusätzlich­e Kapazitäte­n an Lokführern und in Terminals bereitstel­len können“, sagt etwa Christian Böttger, Verkehrsfo­rscher an der Hochschule für Technik und Wirtschaft Berlin. Auch auf der Straße könnten schon wegen des akuten Fahrermang­els kaum zusätzlich­e Transportk­apazitäten bereitgest­ellt werden, sagt Engelhardt vom BGL.

„Es ist kaum möglich, das gesamte Ausmaß der Ausfälle nachzuvoll­ziehen“, sagt auch Dirk Flege, Geschäftsf­ührer des Interessen­verbands Allianz pro Schiene, in dem sowohl die GDL als auch die Deutsche Bahn Mitglied sind. Klappern gehöre zum Handwerk, betont er mit Blick auf

Nur noch 40 Prozent des Schienengü­terverkehr­s kontrollie­rt der einstige Monopolist.

die Klagen aus der Wirtschaft. Aber Flege betont auch: „Natürlich gibt es massive Verwerfung­en bei vielen Betrieben, das kann man als gesichert annehmen.“Er befürchtet durch den Streik vor allem einen weiteren Vertrauens­verlust in den Verkehrstr­äger Schiene. Auch er spricht sich deshalb dafür aus, dass sich die Bahn und Weselskys GDL schleunigs­t wieder an den Verhandlun­gstisch setzen.

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FOTO: BODO MARKS/DPA Viele Güterzüge der Deutschen Bahn bleiben während des Streiks im Depot stehen. Die private Konkurrenz fährt unterdesse­n weiter.

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