„Ich möchte an Erschöpfung sterben“
Der Multi-Kreative wird 80 Jahre alt. Wir besuchen ihn in Wallerfangen und erfahren unter anderem, was er mit einem „vertikalen Leben“meint.
Über Alfred Gulden, der im saarländischen Kulturbetrieb so intensiv und so lange wie kaum ein Zweiter aktiv war – als Autor, Filmemacher, Performer, Dramatiker – scheint bereits alles gesagt, auch von ihm selbst. Über seine Rastlosigkeit, die sich in die Sprache und die Form seiner Werke durchpaust, über die Sprödigkeit seiner Kunst, die sich aus Existentiziellem speist: Grenzerfahrungen, Selbstbehauptung, innerer Zwiespalt, Identitätssuche. Verknüpft wird das oft mit saarländischer Geschichte und hiesigen Topografien. Wir treffen Gulden in seiner Wallerfanger Wohnung – unverändert gedankenhell, und vom Körpertonus her als sei er auf dem Sprung.
Gulden spricht bekanntlich leidenschaftlich gern, InterviewAntworten geraten nicht selten zu Abhandlungen. Anlässlich seines 80. Geburtstages am 25. Januar wollten wir eine andere, knappere Gesprächsform wagen, mit Hilfe des bekannten FAZ-Fragebogens. Das löste wenig Begeisterung aus: „Bleiben Sie mir weg mit Lieblingsmalern und Lieblingstugenden!“Da war er, „da eewich Widdaschpruch“, so der Titel eines Gedichtbandes und der von einer Tante in Guldens Kindertagen erfundene Spitzname. Und dann klappte es doch ganz gut.
Wir fangen nicht gleich mit dem Fragebogen an, ich würde gerne noch wissen, wie Sie selbst Ihre Rolle als „kritischer Heimatdichter“beurteilen. Wollten Sie die Welt, wollten Sie das Saarland mit ihrem Werk besser machen?
GULDEN Ich gehöre zur 68er Generation, und ja, wir hatten die Hoffnung, die Gesellschaft zu verbessern. Wir wollten weg vom Einzelnen als Markenzeichen, wollten nicht zu gierig sein für den Einzelnen, sondern mehr für die Gemeinschaft tun. Acht Jahre habe ich so gelebt, in einer Wohn- und Arbeitsgemeinschaft. Es ging nicht ums Saarland, 1974 haben wir das Internationale DialektInstitut gegründet, es ging darum, den Missbrauch des Heimatbegriffs durch Blut- und Boden-Ideologien zu bekämpfen. Denn Heimat kann überall sein, jeder trägt dieses Momentum in sich, seine Wurzeln. Jeder hat sein Nest im Kopf, darüber habe ich geschrieben und über die Erfahrung, Heimat schafft man sich. Ich habe zwei Heimaten, München und Wallerfangen, und keine ist die erste oder zweite Heimat, sondern ich habe die eine und ich habe die andere Heimat. Ohne Blick von außen, ohne Distanzierung, erreicht man keine Identifikation.
Aber was sehen Sie, wenn Sie aufs aktuelle Saarland blicken? Ein Gärtchen, einen Industrie-Schrottplatz oder einen verpuppten Schmetterling, der sich nach der wirtschaftlichen Transformation wunderschön entfalten wird?
GULDEN Ich sehe Zerrissenheit. Das Saarland war und bleibt ein Sonderfall. Man denkt, man kennt uns, weil es überall anderswo schon ohne Schwerindustrie läuft. Aber bei uns wird immer noch Stahl gekocht, hier wird immer noch der Himmel rot abends. Bei uns ist die andere, die deindustrialisierte Welt noch nicht da, es ist eben noch nicht alles Weltkulturerbe. Ich sehe nicht, was wir nicht haben, sondern ich fühle Stolz, wenn Dillinger Stahl in den New Yorker Hochhaustürmen steckt. Ich bin stolz auf die Dillinger Hütte und auf die deutsch-französische Geschichte dieses Werkes , das ist ja auch ein Sonderfall.
GULDEN Wenn die Menschen gierig bleiben würden. Dann verschwinden sie nämlich von der Welt. Die braucht uns nicht. Die Gier ist das Schlimmste, das Habenwollen – Macht und Besitz. Und für mich persönlich wäre das größte Unglück, wenn ich nicht mehr denken könnte.
Löst der Gedanke an Demenz Ängste aus? Das ist jetzt keine FAZ-Frage.
GULDEN Ängste kenne ich nicht, und bevor Sie fragen, auch keine vor dem Tod. Nach dem Tod geht das Leben weiter, das der anderen. Das Leben braucht uns doch gar nicht. Ängste, die habe ich bei der Vorstellung, dass ich etwas nicht zu Ende schreiben kann, die Zeit hätte ich noch gern, so denke ich. Es ist noch so vieles an Ideen offen.
Was verabscheuen Sie am meisten? Dummheit.
GULDEN Ihre Lieblingsgestalt in der Geschichte?
GULDEN Habe ich nicht. Die Bösen faszinieren mich, die Päpste, römische Diktatoren…
Ihr größter Fehler?
GULDEN Ich habe viele, keinen größten. Wissen Sie, ich bin jähzornig mit mir selbst, wenn irgendwas nicht klappt, suche ich die Schuld immer bei mir selbst, dann beschimpfe ich mich. Bei der Arbeit, am Filmset, bin ich aber ganz anders, da bin ich ganz ruhig, wie ein Buddha. Das Filmemachen ist ja ein sozialer Akt, da hat man Familie.
Und mit Ihrer Frau Karin sind Sie auch ganz sanft?
GULDEN Wenn nicht, entschuldige ich mich sofort. Das ist die Abmachung. Aber generell gilt: Ich war bei Gott kein Harmonisierer, ich galt bei manchen Leuten als aggressiv und arrogant. Im Rückblick denke ich, ich hätte vielleicht weniger anecken können.
Es gab Konflikte? Was war der schlimmste, den Sie aushalten mussten?
GULDEN Ich hatte rote Haare, als einziger in der Familie. Was habe ich mir an Schimpfworten angehört, roter Fuppert und ähnliches, das war damals noch so. Man glaubt nicht, was dieses Gebranntmarktsein mit einem macht. Im Internat in Prüm gab es Gottseidank noch einen zweiten Jungen mit roten Haaren, wir waren die „roten Brüder“.
Wenn Sie Prüm erwähnen, frage ich nach Oskar Lafontaine, der ebenfalls dort war. Leben Sie diese Freundschaft noch?
GULDEN Wir treffen uns nicht mehr so häufig, wir telefonieren. Ich bin jemand, bei dem man die geistigen Hausschuhe anbehalten kann, das weiß er. Früher sahen wir uns manchmal zwei, dreimal die Woche, als Oskar Saarbrücker Oberbürgermeister und später Ministerpräsident war. Wir kennen uns seit 1959, ich bin derjenige, der ihn nach dem
Tod seiner Mutter und mit Ausnahme von seinem Bruder am längsten begleitet. Er kam immer zu allen Verleihungen hier im Land, aber am 28. Januar zum Festakt in Saarlouis wird er nicht da sein, wegen des ersten Parteitages der neuen Partei von Sahra Wagenknecht in Berlin. Schnelle Bekanntschaften interessieren mich generell nicht, Freundschaften entwickeln sich meist über langjährige Arbeitsverhältnisse, etwa mit Bettina van Haaren, Samuel Rachl, Christof Thewes oder Hermann Nitsch, der ist ja schon tot.
Wie gehen Sie mit Verlusten um, nicht nur mit dem von Menschen? Das Altwerden wird allgemein als eine Phase der Verluste beschrieben: Man verliert die Sehkraft, man verliert an Energie...
GULDEN Nein, Lebensenergie habe ich nicht verloren. Ich höre nur schlechter. Und mein Asthma ist sogar viel besser geworden im Alter. Sie wissen, für mich ist Atmen ein Thema, die Texte werden in Atem
rhythmen geschrieben. Und immer noch schreibe ich alles in meine Notizbücher, die habe ich immer bei mir, über 300 sind`s schon. Das hört nicht auf: Immer schnell reinschreiben, immer alles reinschreiben. Von wegen Verluste, ich verliere nichts, kein bisschen Material. Ich weiß, für die nächsten zehn Jahre hast du Stoff!
Sie haben mal gesagt: „Ich möchte an Erschöpfung sterben“.
GULDEN Das wäre ein schöner Tod! Aber noch mal zum Alter: Ich habe sogar an innerer Beweglichkeit gewonnen, ich nenne das vertikal leben.
Das finde ich ein sehr schönes Bild, Sie haben es im jüngsten Filmporträt des Saarländischen Rundfunks benutzt, haben sinngemäß gesagt: ,Je älter ich werde, desto vertikaler lebe ich. Man kann in sich gehen, man kann innere Räume besuchen, Räume, die nicht leer sind. Das äußere In-Bewegung-Sein brauche ich nicht mehr so.'
Ich ruhe mich aber trotzdem nicht aus. Es gilt immer noch: Ein produktiver Zweifel treibt mich vorwärts. Ich habe mir zum Geburtstag ein Projekt geschenkt, zusammen mit Christian Schu: „Die Schnecken nach Metz treiben“. Seit fünf Jahren produzieren wir kleine Filme unter drei Minuten, Filmgedichte, wir drehten auf der lothringischen Hochebene, zu allen Jahres- und Tageszeiten. 52 Filme sind entstanden, das ist schon was. Und ich habe ein Libretto geschrieben für Christopf Thewes, „Die Leidinger Brautmesse“– Lieder der sieben Personen aus meinem Roman „Die Leidinger Hochzeit“, das ist aufgebaut wie ein Oratorium. Ich benutze sie jetzt, die alten Formen, die ich aus der katholischen Liturgie kenne. Was wehre ich mich?!, ich muss mich nicht immer wehren, das habe ich spät erkannt.
GULDEN
Jetzt wird's ein bisschen schmerzhaft, jetzt kommt was aus dem FAZ-Fragebogen. Ich will nicht alles durchexerzieren, nur ganz wenige Fragen. Die erste: Was wäre für Sie das größte Unglück?
„Ich gehöre zur 68er Generation, und ja, wir hatten die Hoffnung, die Gesellschaft zu verbessern.“
Sind Sie noch Mitglied der Kirche? GULDEN Ja, ich halte es mit Herbert Achternbusch, der gesagt hat: Bayern hat mich kaputt gemacht, aber ich bleibe so lange, bis man es ihm anmerkt. Ich kenne ja alle Rituale, meine Lieder kommen aus den Kirchenliedern und aus dem Chanson, nicht aus dem Blues und dem Rock.
Gibt es einen festen Tagesablauf? Ludwig Harig beispielsweise setzte sich jeden Morgen für Stunden an den Schreibtisch, zwang sich zum ersten Wort.
GULDEN Der war ja auch Lehrer.
Ich vergaß, Sie unterwerfen sich keinen Strukturen …
GULDEN Warum sollte ich das tun? Beim Drehen ist es sowieso unmöglich, alles zu planen. Wenn`s regnet, sitzt man halt tagelang fest. Ich hatte ein großes Glück, ich konnte im Wechsel arbeiten und beides erleben: Arbeiten in der Gemeinschaft, und dann das Schreiben allein, als mönchischer Akt. Ich bin ein produktiver Melancholiker.
Das ist jetzt neu.
GULDEN Die Leute denken immer, ich sei der König Immerlustig, aber ich habe melancholische Momente und zugleich das Glück, dass ich mich selbst raus ziehen kann. Die Kunst ist ein wunderbares Hilfsmittel. Sie ist keine Therapie, aber sie gibt Sinn.
Haben Sie denn das Gefühl, irgendetwas Entscheidendes verpasst zu haben?
GULDEN Überhaupt nicht. Karin und ich haben immer im Indikativ gelebt, wir sagten nie: ‚Das könnten wir doch tun', wir haben's gemacht. Wir haben in Rom, in Bordeaux, in Wiepersdorf, in New York gelebt. 52 Jahre haben wir alles zusammen gemacht. Wir haben keinen Besitz angehäuft, und wenn wir uns was wünschen könnten, wäre es ein Zimmer in Paris und eines in Manhattan. Aber man muss doch zufrieden sein über ein erfülltes Leben.
Nichts ist offen geblieben? GULDEN Nein.
„Ich bin jemand, bei dem man die geistigen Hausschuhe anbehalten kann, das weiß Oskar Lafontaine.“