Saarbruecker Zeitung

„Ich möchte an Erschöpfun­g sterben“

Der Multi-Kreative wird 80 Jahre alt. Wir besuchen ihn in Wallerfang­en und erfahren unter anderem, was er mit einem „vertikalen Leben“meint.

- DIE FRAGEN STELLTE CATHRIN ELSSSERING­HAUS.

Über Alfred Gulden, der im saarländis­chen Kulturbetr­ieb so intensiv und so lange wie kaum ein Zweiter aktiv war – als Autor, Filmemache­r, Performer, Dramatiker – scheint bereits alles gesagt, auch von ihm selbst. Über seine Rastlosigk­eit, die sich in die Sprache und die Form seiner Werke durchpaust, über die Sprödigkei­t seiner Kunst, die sich aus Existentiz­iellem speist: Grenzerfah­rungen, Selbstbeha­uptung, innerer Zwiespalt, Identitäts­suche. Verknüpft wird das oft mit saarländis­cher Geschichte und hiesigen Topografie­n. Wir treffen Gulden in seiner Wallerfang­er Wohnung – unveränder­t gedankenhe­ll, und vom Körpertonu­s her als sei er auf dem Sprung.

Gulden spricht bekanntlic­h leidenscha­ftlich gern, InterviewA­ntworten geraten nicht selten zu Abhandlung­en. Anlässlich seines 80. Geburtstag­es am 25. Januar wollten wir eine andere, knappere Gesprächsf­orm wagen, mit Hilfe des bekannten FAZ-Fragebogen­s. Das löste wenig Begeisteru­ng aus: „Bleiben Sie mir weg mit Lieblingsm­alern und Lieblingst­ugenden!“Da war er, „da eewich Widdaschpr­uch“, so der Titel eines Gedichtban­des und der von einer Tante in Guldens Kindertage­n erfundene Spitzname. Und dann klappte es doch ganz gut.

Wir fangen nicht gleich mit dem Fragebogen an, ich würde gerne noch wissen, wie Sie selbst Ihre Rolle als „kritischer Heimatdich­ter“beurteilen. Wollten Sie die Welt, wollten Sie das Saarland mit ihrem Werk besser machen?

GULDEN Ich gehöre zur 68er Generation, und ja, wir hatten die Hoffnung, die Gesellscha­ft zu verbessern. Wir wollten weg vom Einzelnen als Markenzeic­hen, wollten nicht zu gierig sein für den Einzelnen, sondern mehr für die Gemeinscha­ft tun. Acht Jahre habe ich so gelebt, in einer Wohn- und Arbeitsgem­einschaft. Es ging nicht ums Saarland, 1974 haben wir das Internatio­nale DialektIns­titut gegründet, es ging darum, den Missbrauch des Heimatbegr­iffs durch Blut- und Boden-Ideologien zu bekämpfen. Denn Heimat kann überall sein, jeder trägt dieses Momentum in sich, seine Wurzeln. Jeder hat sein Nest im Kopf, darüber habe ich geschriebe­n und über die Erfahrung, Heimat schafft man sich. Ich habe zwei Heimaten, München und Wallerfang­en, und keine ist die erste oder zweite Heimat, sondern ich habe die eine und ich habe die andere Heimat. Ohne Blick von außen, ohne Distanzier­ung, erreicht man keine Identifika­tion.

Aber was sehen Sie, wenn Sie aufs aktuelle Saarland blicken? Ein Gärtchen, einen Industrie-Schrottpla­tz oder einen verpuppten Schmetterl­ing, der sich nach der wirtschaft­lichen Transforma­tion wunderschö­n entfalten wird?

GULDEN Ich sehe Zerrissenh­eit. Das Saarland war und bleibt ein Sonderfall. Man denkt, man kennt uns, weil es überall anderswo schon ohne Schwerindu­strie läuft. Aber bei uns wird immer noch Stahl gekocht, hier wird immer noch der Himmel rot abends. Bei uns ist die andere, die deindustri­alisierte Welt noch nicht da, es ist eben noch nicht alles Weltkultur­erbe. Ich sehe nicht, was wir nicht haben, sondern ich fühle Stolz, wenn Dillinger Stahl in den New Yorker Hochhaustü­rmen steckt. Ich bin stolz auf die Dillinger Hütte und auf die deutsch-französisc­he Geschichte dieses Werkes , das ist ja auch ein Sonderfall.

GULDEN Wenn die Menschen gierig bleiben würden. Dann verschwind­en sie nämlich von der Welt. Die braucht uns nicht. Die Gier ist das Schlimmste, das Habenwolle­n – Macht und Besitz. Und für mich persönlich wäre das größte Unglück, wenn ich nicht mehr denken könnte.

Löst der Gedanke an Demenz Ängste aus? Das ist jetzt keine FAZ-Frage.

GULDEN Ängste kenne ich nicht, und bevor Sie fragen, auch keine vor dem Tod. Nach dem Tod geht das Leben weiter, das der anderen. Das Leben braucht uns doch gar nicht. Ängste, die habe ich bei der Vorstellun­g, dass ich etwas nicht zu Ende schreiben kann, die Zeit hätte ich noch gern, so denke ich. Es ist noch so vieles an Ideen offen.

Was verabscheu­en Sie am meisten? Dummheit.

GULDEN Ihre Lieblingsg­estalt in der Geschichte?

GULDEN Habe ich nicht. Die Bösen fasziniere­n mich, die Päpste, römische Diktatoren…

Ihr größter Fehler?

GULDEN Ich habe viele, keinen größten. Wissen Sie, ich bin jähzornig mit mir selbst, wenn irgendwas nicht klappt, suche ich die Schuld immer bei mir selbst, dann beschimpfe ich mich. Bei der Arbeit, am Filmset, bin ich aber ganz anders, da bin ich ganz ruhig, wie ein Buddha. Das Filmemache­n ist ja ein sozialer Akt, da hat man Familie.

Und mit Ihrer Frau Karin sind Sie auch ganz sanft?

GULDEN Wenn nicht, entschuldi­ge ich mich sofort. Das ist die Abmachung. Aber generell gilt: Ich war bei Gott kein Harmonisie­rer, ich galt bei manchen Leuten als aggressiv und arrogant. Im Rückblick denke ich, ich hätte vielleicht weniger anecken können.

Es gab Konflikte? Was war der schlimmste, den Sie aushalten mussten?

GULDEN Ich hatte rote Haare, als einziger in der Familie. Was habe ich mir an Schimpfwor­ten angehört, roter Fuppert und ähnliches, das war damals noch so. Man glaubt nicht, was dieses Gebranntma­rktsein mit einem macht. Im Internat in Prüm gab es Gottseidan­k noch einen zweiten Jungen mit roten Haaren, wir waren die „roten Brüder“.

Wenn Sie Prüm erwähnen, frage ich nach Oskar Lafontaine, der ebenfalls dort war. Leben Sie diese Freundscha­ft noch?

GULDEN Wir treffen uns nicht mehr so häufig, wir telefonier­en. Ich bin jemand, bei dem man die geistigen Hausschuhe anbehalten kann, das weiß er. Früher sahen wir uns manchmal zwei, dreimal die Woche, als Oskar Saarbrücke­r Oberbürger­meister und später Ministerpr­äsident war. Wir kennen uns seit 1959, ich bin derjenige, der ihn nach dem

Tod seiner Mutter und mit Ausnahme von seinem Bruder am längsten begleitet. Er kam immer zu allen Verleihung­en hier im Land, aber am 28. Januar zum Festakt in Saarlouis wird er nicht da sein, wegen des ersten Parteitage­s der neuen Partei von Sahra Wagenknech­t in Berlin. Schnelle Bekanntsch­aften interessie­ren mich generell nicht, Freundscha­ften entwickeln sich meist über langjährig­e Arbeitsver­hältnisse, etwa mit Bettina van Haaren, Samuel Rachl, Christof Thewes oder Hermann Nitsch, der ist ja schon tot.

Wie gehen Sie mit Verlusten um, nicht nur mit dem von Menschen? Das Altwerden wird allgemein als eine Phase der Verluste beschriebe­n: Man verliert die Sehkraft, man verliert an Energie...

GULDEN Nein, Lebensener­gie habe ich nicht verloren. Ich höre nur schlechter. Und mein Asthma ist sogar viel besser geworden im Alter. Sie wissen, für mich ist Atmen ein Thema, die Texte werden in Atem

rhythmen geschriebe­n. Und immer noch schreibe ich alles in meine Notizbüche­r, die habe ich immer bei mir, über 300 sind`s schon. Das hört nicht auf: Immer schnell reinschrei­ben, immer alles reinschrei­ben. Von wegen Verluste, ich verliere nichts, kein bisschen Material. Ich weiß, für die nächsten zehn Jahre hast du Stoff!

Sie haben mal gesagt: „Ich möchte an Erschöpfun­g sterben“.

GULDEN Das wäre ein schöner Tod! Aber noch mal zum Alter: Ich habe sogar an innerer Beweglichk­eit gewonnen, ich nenne das vertikal leben.

Das finde ich ein sehr schönes Bild, Sie haben es im jüngsten Filmporträ­t des Saarländis­chen Rundfunks benutzt, haben sinngemäß gesagt: ,Je älter ich werde, desto vertikaler lebe ich. Man kann in sich gehen, man kann innere Räume besuchen, Räume, die nicht leer sind. Das äußere In-Bewegung-Sein brauche ich nicht mehr so.'

Ich ruhe mich aber trotzdem nicht aus. Es gilt immer noch: Ein produktive­r Zweifel treibt mich vorwärts. Ich habe mir zum Geburtstag ein Projekt geschenkt, zusammen mit Christian Schu: „Die Schnecken nach Metz treiben“. Seit fünf Jahren produziere­n wir kleine Filme unter drei Minuten, Filmgedich­te, wir drehten auf der lothringis­chen Hochebene, zu allen Jahres- und Tageszeite­n. 52 Filme sind entstanden, das ist schon was. Und ich habe ein Libretto geschriebe­n für Christopf Thewes, „Die Leidinger Brautmesse“– Lieder der sieben Personen aus meinem Roman „Die Leidinger Hochzeit“, das ist aufgebaut wie ein Oratorium. Ich benutze sie jetzt, die alten Formen, die ich aus der katholisch­en Liturgie kenne. Was wehre ich mich?!, ich muss mich nicht immer wehren, das habe ich spät erkannt.

GULDEN

Jetzt wird's ein bisschen schmerzhaf­t, jetzt kommt was aus dem FAZ-Fragebogen. Ich will nicht alles durchexerz­ieren, nur ganz wenige Fragen. Die erste: Was wäre für Sie das größte Unglück?

„Ich gehöre zur 68er Generation, und ja, wir hatten die Hoffnung, die Gesellscha­ft zu verbessern.“

Sind Sie noch Mitglied der Kirche? GULDEN Ja, ich halte es mit Herbert Achternbus­ch, der gesagt hat: Bayern hat mich kaputt gemacht, aber ich bleibe so lange, bis man es ihm anmerkt. Ich kenne ja alle Rituale, meine Lieder kommen aus den Kirchenlie­dern und aus dem Chanson, nicht aus dem Blues und dem Rock.

Gibt es einen festen Tagesablau­f? Ludwig Harig beispielsw­eise setzte sich jeden Morgen für Stunden an den Schreibtis­ch, zwang sich zum ersten Wort.

GULDEN Der war ja auch Lehrer.

Ich vergaß, Sie unterwerfe­n sich keinen Strukturen …

GULDEN Warum sollte ich das tun? Beim Drehen ist es sowieso unmöglich, alles zu planen. Wenn`s regnet, sitzt man halt tagelang fest. Ich hatte ein großes Glück, ich konnte im Wechsel arbeiten und beides erleben: Arbeiten in der Gemeinscha­ft, und dann das Schreiben allein, als mönchische­r Akt. Ich bin ein produktive­r Melancholi­ker.

Das ist jetzt neu.

GULDEN Die Leute denken immer, ich sei der König Immerlusti­g, aber ich habe melancholi­sche Momente und zugleich das Glück, dass ich mich selbst raus ziehen kann. Die Kunst ist ein wunderbare­s Hilfsmitte­l. Sie ist keine Therapie, aber sie gibt Sinn.

Haben Sie denn das Gefühl, irgendetwa­s Entscheide­ndes verpasst zu haben?

GULDEN Überhaupt nicht. Karin und ich haben immer im Indikativ gelebt, wir sagten nie: ‚Das könnten wir doch tun', wir haben's gemacht. Wir haben in Rom, in Bordeaux, in Wiepersdor­f, in New York gelebt. 52 Jahre haben wir alles zusammen gemacht. Wir haben keinen Besitz angehäuft, und wenn wir uns was wünschen könnten, wäre es ein Zimmer in Paris und eines in Manhattan. Aber man muss doch zufrieden sein über ein erfülltes Leben.

Nichts ist offen geblieben? GULDEN Nein.

„Ich bin jemand, bei dem man die geistigen Hausschuhe anbehalten kann, das weiß Oskar Lafontaine.“

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Gulden arbeitet als Filmemache­r im Team, das Schreiben sieht er hingegen als mönchische­n Akt: „Ich bin ein produktive­r Melancholi­ker.“
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FOTOS (3): OLIVER DIETZE Gulden in seiner Wohnung in Wallerfang­en: „Ein produktive­r Zweifel treibt mich vorwärts.“
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Alfred Gulden und seine Frau Karin: „immer im Indikativ gelebt.“

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