Tausende Missbrauchsfälle in evangelischer Kirche
Missbrauch galt lange als Problem der Katholiken. Ein Irrglaube, denn erstmals beleuchtet eine große Studie sexualisierte Gewalt bei den Protestanten.
HANNOVER (dpa) Im Pfarrhaus, auf Jugendfreizeit, im Kinderheim: Alle Orte, die in der evangelischen Kirche eine Rolle spielen, konnten auch zu Tatorten werden. Elf Jahre alt waren die Mädchen und Jungen im Durchschnitt, als sie zum ersten Mal sexualisierte Gewalt erlebten. Die Beschuldigten sind zu gut 40 Prozent evangelische Pfarrpersonen, davon 99,6 Prozent Männer. Das ist ein Ergebnis der ersten unabhängigen Studie zu sexualisierter Gewalt, die die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) und die Diakonie in den Blick nimmt.
Wenn es um sexualisierte Gewalt ging, war bei den Protestanten lange von Einzelfällen die Rede. Viele evangelische Christen hielten ihre Kirche für die bessere, sexueller Missbrauch war aus ihrer Sicht ein Problem der Katholiken. Doch die sogenannte Forum-Studie liefert jetzt „deutliche Belege für ein hohes Ausmaß sexualisierter Gewalt“in den Landeskirchen und in der Diakonie, wie die Autoren schreiben.
Ermittelt wurden für die vergangenen Jahrzehnte mindestens 1259 beschuldigte Kirchen-Mitarbeiter sowie 2225 betroffene Kinder und Jugendliche. Die sexualisierte Gewalt sei nicht nur auf die frühere Heimerziehung oder den „liberalen Sexualitätsdiskurs“der 1970er Jahre zu reduzieren, betonen die Autoren der sogenannten Forum-Studie. Die Forscher führten für die 2020 von der EKD in Auftrag gegebenen Missbrauchsstudie unter anderem Interviews mit rund 100 Betroffenen und werteten Dokumente aus, die die 20 Landeskirchen und Diakonie zur Verfügung gestellt hatten.
Ein bemerkenswert hoher Anteil der Interviewten berichtete von wiederholten Übergriffen mit mehreren Beschuldigten, durchschnittlich dauerte der Missbrauch sieben
Jahre, unter den schweren gesundheitlichen Folgen leiden die meisten bis heute.
Die ermittelten Fälle seien nur „die Spitze der Spitze des Eisbergs“, betonte Studienleiter Martin Wazlawik. Während für die MHG-Studie zu Missbrauch in der katholischen Kirche rund 38 000 Personalakten von Geistlichen geprüft wurden, waren es jetzt bei den Protestanten nur 5000 bis 6000 vorwiegend Disziplinarakten. Harald Dreßing, Professor am Zentrum für Seelische
Gesundheit in Mannheim, kritisierte die „schleppende Zuarbeit der Landeskirchen“. Die Betroffenen hätten in den Interviews berichtet, dass sie in der Regel von der evangelischen Kirche allein gelassen und ihre Erfahrungen lange ignoriert worden seien, sagte Studienleiter Wazlawik. Viele hätten dann sogar aus der Gemeinde wegziehen müssen.
„Heute ist für die evangelische Kirche und die Diakonie ein ‚rabenschwarzer Tag`“, sagte Detlev Zander, Betroffenensprecher im Beteiligungsforum der EKD, in dem auch Kirchenvertreter sitzen. „Fangt endlich an und nehmt die Betroffenen ernst“, appellierte er an die EKDVerantwortlichen. Die Betroffene Katharina Kracht, Mitglied im Beirat des Forschungsverbundes, forderte externe Fachleute und Beschwerdestellen. „Wir brauchen hier eine Verantwortungsübernahme des Staates. Denn es zeigt sich immer wieder, die Kirche ist für die Betroffenen kein Gegenüber“, sagte sie.
Die amtierende EKD-Ratsvorsitzende Kirsten Fehrs sagte: „Wir haben uns auch als Institution an unzählig vielen Menschen schuldig gemacht.“Sie könne nur „von ganzem Herzen“um Entschuldigung bitten. Das Gesamtbild, das die Studie zeige, habe sie „zutiefst erschüttert“, sagte die Hamburger Bischöfin. Betroffene sexualisierter Gewalt können bislang einen Antrag auf individuelle freiwillige Leistungen stellen.
2225 Kinder und Jugendliche sind vom sexuellen Missbrauch in der evangelischen Kirche betroffen. Quelle: Fokus-Studie