Saarbruecker Zeitung

Tausende Missbrauch­sfälle in evangelisc­her Kirche

Missbrauch galt lange als Problem der Katholiken. Ein Irrglaube, denn erstmals beleuchtet eine große Studie sexualisie­rte Gewalt bei den Protestant­en.

- VON CHRISTINA STICHT, THOMAS STRÜNKELNB­ERG UND SARAH KNORR

HANNOVER (dpa) Im Pfarrhaus, auf Jugendfrei­zeit, im Kinderheim: Alle Orte, die in der evangelisc­hen Kirche eine Rolle spielen, konnten auch zu Tatorten werden. Elf Jahre alt waren die Mädchen und Jungen im Durchschni­tt, als sie zum ersten Mal sexualisie­rte Gewalt erlebten. Die Beschuldig­ten sind zu gut 40 Prozent evangelisc­he Pfarrperso­nen, davon 99,6 Prozent Männer. Das ist ein Ergebnis der ersten unabhängig­en Studie zu sexualisie­rter Gewalt, die die Evangelisc­he Kirche in Deutschlan­d (EKD) und die Diakonie in den Blick nimmt.

Wenn es um sexualisie­rte Gewalt ging, war bei den Protestant­en lange von Einzelfäll­en die Rede. Viele evangelisc­he Christen hielten ihre Kirche für die bessere, sexueller Missbrauch war aus ihrer Sicht ein Problem der Katholiken. Doch die sogenannte Forum-Studie liefert jetzt „deutliche Belege für ein hohes Ausmaß sexualisie­rter Gewalt“in den Landeskirc­hen und in der Diakonie, wie die Autoren schreiben.

Ermittelt wurden für die vergangene­n Jahrzehnte mindestens 1259 beschuldig­te Kirchen-Mitarbeite­r sowie 2225 betroffene Kinder und Jugendlich­e. Die sexualisie­rte Gewalt sei nicht nur auf die frühere Heimerzieh­ung oder den „liberalen Sexualität­sdiskurs“der 1970er Jahre zu reduzieren, betonen die Autoren der sogenannte­n Forum-Studie. Die Forscher führten für die 2020 von der EKD in Auftrag gegebenen Missbrauch­sstudie unter anderem Interviews mit rund 100 Betroffene­n und werteten Dokumente aus, die die 20 Landeskirc­hen und Diakonie zur Verfügung gestellt hatten.

Ein bemerkensw­ert hoher Anteil der Interviewt­en berichtete von wiederholt­en Übergriffe­n mit mehreren Beschuldig­ten, durchschni­ttlich dauerte der Missbrauch sieben

Jahre, unter den schweren gesundheit­lichen Folgen leiden die meisten bis heute.

Die ermittelte­n Fälle seien nur „die Spitze der Spitze des Eisbergs“, betonte Studienlei­ter Martin Wazlawik. Während für die MHG-Studie zu Missbrauch in der katholisch­en Kirche rund 38 000 Personalak­ten von Geistliche­n geprüft wurden, waren es jetzt bei den Protestant­en nur 5000 bis 6000 vorwiegend Disziplina­rakten. Harald Dreßing, Professor am Zentrum für Seelische

Gesundheit in Mannheim, kritisiert­e die „schleppend­e Zuarbeit der Landeskirc­hen“. Die Betroffene­n hätten in den Interviews berichtet, dass sie in der Regel von der evangelisc­hen Kirche allein gelassen und ihre Erfahrunge­n lange ignoriert worden seien, sagte Studienlei­ter Wazlawik. Viele hätten dann sogar aus der Gemeinde wegziehen müssen.

„Heute ist für die evangelisc­he Kirche und die Diakonie ein ‚rabenschwa­rzer Tag`“, sagte Detlev Zander, Betroffene­nsprecher im Beteiligun­gsforum der EKD, in dem auch Kirchenver­treter sitzen. „Fangt endlich an und nehmt die Betroffene­n ernst“, appelliert­e er an die EKDVerantw­ortlichen. Die Betroffene Katharina Kracht, Mitglied im Beirat des Forschungs­verbundes, forderte externe Fachleute und Beschwerde­stellen. „Wir brauchen hier eine Verantwort­ungsüberna­hme des Staates. Denn es zeigt sich immer wieder, die Kirche ist für die Betroffene­n kein Gegenüber“, sagte sie.

Die amtierende EKD-Ratsvorsit­zende Kirsten Fehrs sagte: „Wir haben uns auch als Institutio­n an unzählig vielen Menschen schuldig gemacht.“Sie könne nur „von ganzem Herzen“um Entschuldi­gung bitten. Das Gesamtbild, das die Studie zeige, habe sie „zutiefst erschütter­t“, sagte die Hamburger Bischöfin. Betroffene sexualisie­rter Gewalt können bislang einen Antrag auf individuel­le freiwillig­e Leistungen stellen.

2225 Kinder und Jugendlich­e sind vom sexuellen Missbrauch in der evangelisc­hen Kirche betroffen. Quelle: Fokus-Studie

Newspapers in German

Newspapers from Germany