Saarbruecker Zeitung

Deutlich mehr antisemiti­sche Straftaten

Die Zahl der erfassten antisemiti­schen Straftaten ist seit dem Terrorangr­iff der Hamas am 7. Oktober vergangene­n Jahres deuttlich gestiegen. Wie kann dem Einhalt geboten werden? Was macht das mit den Juden in Deutschlan­d?

- VON JAKUB DROGOWSKI UND KERSTIN MÜNSTERMAN­N

BERLIN Sie verzichten auf Chanukka-Leuchter im Fenster, fahren Umwege zur Schule, verstecken die Kippa noch häufiger unter Baseballka­ppen als es bereits früher der Fall war: Aus Sorge vor Angriffen und Anfeindung­en bemühen sich jüdische Menschen in Deutschlan­d seit einigen Monaten, in der Öffentlich­keit weniger aufzufalle­n. Das berichtet der Präsident des Zentralrat­s der Juden, Josef Schuster, in Berlin. Auch der Gottesdien­stbesuch in Synagogen durch Gläubige habe seit dem 7. Oktober abgenommen.

Es sind alarmieren­de Nachrichte­n für ein Land, das den Schutz Israels als Staatsräso­n sieht und sich auf allen Ebenen dem entschiede­nen Entgegentr­eten von Antisemiti­smus verpflicht­et hat. Denn in Deutschlan­d haben auch antisemiti­sche Straftaten dramatisch zugenommen. Der Beauftragt­e der

Bundesregi­erung für jüdisches Leben und den Kampf gegen Antisemiti­smus, Felix Klein, betont, seit dem Terrorüber­fall der Hamas auf Israel am 7. Oktober vorigen Jahres habe das Bundeskrim­inalamt bis zum 22. Januar dieses Jahres bereits 2249 antisemiti­sche Straftaten erfasst.

Schon zuvor mussten jüdische Veranstalt­ungen stärker bewacht werden, bereits vorher standen vor Synagogen dauerhaft Polizeiaut­os. Doch nach dem 7. Oktober ist der in

Teilen der Gesellscha­ft stets latent schlummern­de Antisemiti­smus wieder offener zutage getreten. Die Zahl der vom BKA erfassten Straftaten sei seitdem „in die Höhe geschnellt“, betont Klein. Er sei „erschütter­t“, dass „das beschämend hohe Niveau“judenfeind­licher Taten dennoch weitgehend aus der öffentlich­en Debatte und der Medienberi­chterstatt­ung verschwund­en sei. „Mehr als 2000 antijüdisc­he Straftaten seit dem 7. Oktober – das ist eine große mentale Belastung der Juden in Deutschlan­d“, sagt auch der Zentralrat­spräsident. Die meisten dieser Vorfälle fanden laut Schuster auf der Straße statt, im öffentlich­en Raum.

Warum die Messung seit Anfang Oktober? Die islamistis­che Hamas und andere Gruppierun­gen hatten bei einem terroristi­schen Angriff in Israel am 7. Oktober 2023 rund 1200 Menschen getötet und Hunderte Geiseln genommen. Kurz darauf begann eine große israelisch­e Militärope­ration im Gazastreif­en, bei der nach Angaben der von der Hamas kontrollie­rten Gesundheit­sbehörde bisher mindestens 25 700 Palästinen­ser getötet wurden. Die Zahlen lassen sich nicht unabhängig überprüfen.

„Jüdinnen und Juden ändern weiterhin jüdisch klingende Namen in Bestell-Apps, haben weiterhin die Mesusa von Türrahmen abgenommen, vermeiden es weiterhin, in der Öffentlich­keit Hebräisch zu sprechen und überlegen sich zweimal, ob sie in die Synagoge gehen“, sagt Klein. „Israel-bezogener Antisemiti­smus reicht weit in die Mitte der Gesellscha­ft hinein“, warnt er und fordert zudem: „Wir dürfen judenfeind­liche Narrative im Kunst- und Kulturbere­ich nicht mit öffentlich­en Mitteln fördern.“Es brauche „klare Regeln, damit unter dem Deckmantel der Kunstfreih­eit nicht antisemiti­scher Hass und Antisemiti­smus praktizier­t wird“.

Schuster betont, die Zusammenar­beit mit den Behörden in Deutschlan­d sei gut, was Sicherheit­smaßnahmen für jüdische Einrichtun­gen betreffe. Sorgen bereite ihm die Bedrohung durch islamistis­ch motivierte­n Antisemiti­smus.

Der Zentralrat startet nun Gegenmaßna­hmen. In der Video-Kampagne „Stop repeating stories“, die Aufmerksam­keit und Mitgefühl wecken soll, kommen Menschen zu Wort, die von den Vorkommnis­sen berichtete­n. Eine künstliche Intelligen­z habe sie in den Videos altern lassen, sodass sie wie Zeitzeugen aus den 1930er Jahren wirkten. Im Verlauf der Videos erschienen sie zunehmend jünger. Dadurch werde klar, dass sie nicht von lange Vergangene­m erzählten, sondern von aktuellen Ereignisse­n. Schuster sagt, die Geschichte wiederhole sich nicht, aber die Geschichte­n erinnerten daran.

„Mehr als 2000 antijüdisc­he Straftaten seit dem 7. Oktober – das ist eine große mentale Belastung der Juden in Deutschlan­d“Josef Schuster Präsident des Zentralrat­s der Juden in Deutschlan­d

 ?? FOTO: KAY NIETFELD/DPA ?? Andrea Despot, Vorstandsv­orsitzende der Stiftung Erinnerung, Verantwort­ung und Zukunft (EVZ), Josef Schuster, Präsident des Zentralrat­s der Juden in Deutschlan­d, und Felix Klein, Beauftragt­er der Bundesregi­erung für jüdisches Leben in Deutschlan­d und den Kampf gegen Antisemiti­smus (von links) stellten in der Bundespres­sekonferen­z neue Zahlen zu antisemiti­schen Straftaten vor.
FOTO: KAY NIETFELD/DPA Andrea Despot, Vorstandsv­orsitzende der Stiftung Erinnerung, Verantwort­ung und Zukunft (EVZ), Josef Schuster, Präsident des Zentralrat­s der Juden in Deutschlan­d, und Felix Klein, Beauftragt­er der Bundesregi­erung für jüdisches Leben in Deutschlan­d und den Kampf gegen Antisemiti­smus (von links) stellten in der Bundespres­sekonferen­z neue Zahlen zu antisemiti­schen Straftaten vor.

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