Glücklich bis zum Schuss? Der Konflikt um die Jagd im Saarland
12 218 Rehe wurden in den saarländischen Wäldern in der Saison 2022/23 erlegt. Viele davon von Försterinnen und Förstern des Saarforst-Landesbetriebs. Doch warum jagen Menschen überhaupt? Und wie sehen Tierschützer das? Beobachtungen auf einer Drückjagd b
Aufgeschreckt hebt das Reh seinen Kopf. Schnell kommt das Reh auf die Beine. Verlässt seine Kuhle im dichten Unterholz. Weg vom Hundegebell springt es durch einen Graben. Es flieht bergauf, vorbei an alten Buchen, noch jungen Birken.
Marlene Hertzsch hat das Reh durch das Reflexvisier ihres Jagdgewehrs fest im Blick. Ein breites orangenes Stirnband hält die langen blonden Haare von den blauen Augen fern. 40 Meter Schussdistanz, die Jägerin hält kurz vor. Von ihrem leicht erhöhten Ansitz aus hat die 26-Jährige freie Schussbahn. Kleine Atem-Wolken bilden sich vor ihrem Mund. Ihr Finger legt sich an den Abzug. Sie drückt ab.
Mit einem lauten Knall verlässt das Geschoss, Kaliber .308 Winchester, den Lauf. Mit 800 Metern pro Sekunde braucht es nur einen Wimpernschlag bis zum Ziel. Die Kugel trifft das Reh unter dem Schulterblatt, durchdringt den Körper, zerfetzt das Herz. Trotzdem bleibt das Reh auf den Beinen, taumelt, versucht die Flucht. Nach zehn Metern bricht es kraftlos zusammen. Auf dem Waldboden brechen ihm die Augen.
Zwei Stunden zuvor: An einem bitterkalten Freitagmorgen warten 55 Männer und Frauen in dicker Winterkleidung in Reih und Glied vor einem kleinen Unterstand auf dem Parkplatz der Hangarder Ostertalhalle. Die meisten tragen Jacken und Westen mit Tarnmuster. Nicht braun oder grün. Hier herrschen Signalfarben vor, von neongelb bis pink. Schirmmützen und Filzhüte werden von leuchtend orangenen Bändern gekrönt.
Insgesamt gibt es mindestens 4500 Jägerinnen und Jäger im Saarland. An der Ostertalhalle haben sich an diesem Morgen die Jägerinnen und Jäger, die Männer sind klar in der Überzahl, zu einer Bewegungsjagd des Saarforst Landesbetriebes im Wald zwischen Neunkirchen-Hangard, Münchwies und Frankenholz angemeldet. 50 Euro pro Kopf.
„Guten Morgen, den Jagdschein und die Schießnachweise bitte“: Im Unterstand vor den wartenden Jägern sitzt Sebastian Erfurt. 35 Jahre, kurzer Vollbart, markanter Schnauzer. Das saarländische Landeswappen und der eingestickte Schriftzug „Saarforst“prangen an seiner dick gefütterten Jacke. „Wer mit Saarforst jagen will, braucht natürlich einen Jagdschein aber auch Schießnachweise. Die sind im Saarland gesetzlich vorgeschrieben“, sagt der Leiter des Bereichs Jagd beim Landesforst während er die Papiere kontrolliert. Ihm ist das wichtig. Die Jäger sollen das Wild möglichst mit einem Schuss töten. „Sollte ein Stück im dichten Geäst in der Deckung verhoffen, darf nicht darauf geschossen werden!“Bei der Einweisung verfällt Erfurt in die Jägersprache, man grenzt sich ab. Das Wildtier wird zum Stück, aus verstecken wird verhoffen. „Wir wollen eine saubere und tierschutzkonforme Jagd“, sagt der Jagdleiter zum Schluss. Die Jäger nicken.
Mit Saarforst wollen an diesem Freitagmorgen viele und längst nicht nur Saarländer zur Jagd. Jäger aus der gesamten Großregion, von Belgien bis Baden-Württemberg sind dafür extra nach Hangard gekommen. Mit dabei sind auch Jörg Erich Haselier und sein siebenjähriger Sohn David aus Schwäbisch Gmünd. Haselier trägt Baschlikmütze, karierter Schal auf Lodenjacke mit Aufschlägen, kniehohe Lederstiefel: ein Jäger wie aus dem Bilderbuch. „Ich bin passionierter Brackenjäger“, sagt er. Der 56-Jährige setzt Bracken, die ältesten Jagdhunde überhaupt, zum Aufstöbern des Wildes ein. „Die sind für solche Drückjagden wie heute prädestiniert“, erklärt der Schwabe. Haselier kommt viel rum auf Jagden in ganz Deutschland, doch im Saarland fühlt er sich besonders wohl. „Saarforst organisiert die Jagden sehr gut und sicher“. Der habe die höchsten Anforderungen an die Schießfähigkeiten. Das gebe auch den Jagdteilnehmern Sicherheit. „Ich weiß, dass meine Jagd-Nachbarn besonnen sind und wissen, was sie tun. Die Jäger hier haben alle ein gewisses Level und sind vom Fach. Es sind keine typischen Hobby-Ansitzjäger mit Hosenträgern, Lada Niva und schlechter Laune, die klischeehaft Reiterinnen anmotzen“, schmunzelt Haselier. Die Jagd mit Saarforst, das ist für den Referenten für Betriebsverfassungsrecht ein Freizeitvergnügen inmitten der Natur, sicher und tierschutzkonform.
Ganz anders sieht das die Tierschutzorganisation Peta. „Jäger sind für uns schießwütige Menschen, die für sich beschlossen haben, aus Spaß Tiere zu töten“, sagt Peter Höffken routiniert am Telefon. Er hört die Frage häufiger. Höffken ist Fachreferent zum Thema Jagd bei Peta in Stuttgart. Die Tierschützer kämpfen seit Jahren gegen jede Art von Jagd. „Ich habe noch nie Jäger mit Tränen in den Augen auf dem Hochsitz gesehen. Für sie steht die Befriedigung des Triebs über Leben und Tod zu entscheiden klar im Vordergrund“, ist Höffken überzeugt. Bewegungsoder Drückjagden, wie die im Wald bei Hangard, stehen ganz weit oben auf der „Liste der schlimmsten Tierquälereien“die Peta anprangert. Höffken zitiert aus einer Stellungnahme der „Tierärztlichen Vereinigung für Tierschutz“von 2010. Demnach sterben insbesondere bei Drückjagden, je nach Tierart, bis zu
zwei Drittel der Wildtiere nicht sofort. Sie werden nur angeschossen. „Viele sterben einen qualvollen Tod. Womöglich muss sich das Tier auch einer Hundemeute stellen und leidet unter Todesangst“, macht Peter Höffken seinen Standpunkt deutlich. Jagd und Tierschutz: für Peta ein Widerspruch.
Herr Bergmann hält die Nase dicht am Boden. Er nimmt eine Fährte auf. Bellend hebt die Steirische Rauhhaarbracke den Kopf. Dann legt er los. Selbst mit seinen neun Hundejahren ist er noch rasend schnell. Laut bellend springt er über Brombeerbüsche und Äste. Zum Schutz gegen spitze Äste und tödliche Wildschweinzähne trägt er eine stichsichere Weste in Signalfarbe. Menschliche Augen sehen nur dicht stehende Buchen, Birken und das Brombeergestrüpp am Hangarder Gorrenberg. Doch der Jagdhund wittert etwas. Plötzlich erhebt sich in 60 Metern Entfernung eine Rehgeiß aus dem Unterholz. Aufgeschreckt sprintet sie los. Das Siegel, das weiße Schwanzende des Reh-Weibchens, hüpft deutlich auf und ab. Herr Bergmann setzt nach, bellt laut, verfolgt das Reh aber mit gehörigem Abstand, kommt ihm nicht näher als 20 Meter. Es fällt kein Schuss. Das Reh flüchtet in Richtung eines Bachs an den Waldrand.
Saarforst-Mann Sebastian Erfurt ruft seinen Hund zurück. Der Jagdleiter ist heute als Treiber bei der Drückjagd dabei. An seiner Funktionshose hängt ein langes Messer. Sein Jagdgewehr trägt er über die Schulter. Sein Job als Treiber: Laut „Hopp Hopp“rufen, auf sich aufmerksam machen und vor allem die Jagdhunde führen. Sechs von ihnen laufen aufgeregt bellend und jaulend durch den Wald. Während einige Cockerspaniel und Bleu de Gascogne dicht bei den Treibern bleiben, ziehen Herr Bergmann und die Spaniel-Dame Lola weite Kreise. Herr Bergmann kommt an diesem Tag auf eine Laufstrecke von 25 Kilometern, Erfurt verfolgt das über GPS. Die Hunde nehmen die Fährte des Wildes auf und treiben es mit lautem Bellen aus dem Gebüsch. Auf keinen Fall sollen sie das Wild angreifen und hetzen, erklärt Erfurt. Herr Bergmann sei kein Killer, der Wildtiere reißt, sondern ein gut ausgebildeter Jagdhund, der seine Abende zusammen mit der Familie auf der Couch ausklingen lässt. Herr Bergmann treibt Rehe aus dem dichten Unterholz vor die Ansitze der Jäger, die verteilt im Wald auf Beute warten. Immer wieder hallen Schüsse durch den Wald. Unterhalb eines Hangs, bewachsen mit hohen Buchen und Eichen, wartet Richard Bedersdorfer. Der 64-Jährige in gelb-rotem Saarforst-Parka ist seit 30 Jahren Jäger. Von seinem rund zwei Meter hohen, grob gezimmerten Ansitz aus legt er auf ein junges Reh an. Ein deutliches „Plopp“tönt aus dem Jagdgewehr mit Schalldämpfer. Bedersdorfer trifft mit dem ersten Schuss.
Wie fühlt es sich an ein Tier zu töten? Bedersdorfer irritiert die Frage. Er zögert kurz: „Das Töten von Kreaturen gehört zur Jagd dazu.“Schnell kommt er mit seinem Förster-Kollegen Sebastian Erfurt ins Gespräch. „Der ganze Hang hier steht voll mit alten Eichen“, sagt Bedersdorfer, „aber am Boden siehst du keine einzige. Alle gefressen! Das ist für uns verheerend!“
Vor allem Rehe machen dem saarländischen Landesforstbetrieb beim Versuch den Wald der Zukunft aufzuforsten einen Strich durch die Rechnung. Sebastian Erfurt zeigt während der Jagd immer wieder auf den Boden. „Da, da sieht man es gut, das war eine Eiche“. Das Pflänzchen am Waldboden wurde runtergefressen. „Obwohl hier viele alte Eichen stehen, wachsen keine Jungen nach“. Für Rehe sind im von Buchen dominierten Wald junge Eichenknospen und die Knospen anderer seltenerer Baumarten Delikatessen. Zwar fressen die Rehe auch Knospen junger Rotbuchen, doch davon wachsen genug nach. „Wir wollen einen Wald mit einem breit gestreuten Portfolio an Baumarten“, sagt Erfurt, „Vor dem Hintergrund des Klimawandels können wir nicht sagen, wir setzen nur auf ein Pferd, die Buche. Wir brauchen mindestens eine Quadriga an Baumarten, falls eine oder mehrere ausfallen.“
Durch den Verbiss der Rehe werde die natürliche Verjüngung im Wald verzögert oder sogar verhindert. Dieses Problem könne man nur lösen, indem man die Wildtiere mit Gattern und Zäunen vom Wald aussperrt oder eben mit Wild-Management, der Jagd auf die Tiere.
Die Tierschutzorganisation Peta will dieses Argument nicht gelten lassen. „Seit 20 Millionen Jahren gibt es Rehe und bisher hat das System Wald auch ohne Eingriffe durch den Menschen wunderbar funktioniert“, sagt der Tierschützer Peter Höffken. Das Ökosystem Wald reguliere sich seit vielen Millionen Jahren von selbst. „Und jetzt ist da der Mensch, der möchte den Wald intensiv nutzen und da ist jeder Störenfried in Form eines Tieres, das sich natürlich von Pflanzen im Wald ernährt, einer zu viel. Es geht um knallharte wirtschaftliche Interessen.“
Doch wie sähe der Wald ohne Jagd aus? Reguliert sich unser heimischer Forst ganz von selbst? „Ja, aber“, sagt Michael Müller, Forstwissenschaftler und Lehrstuhlinhaber der Professur für Waldschutz an der TU Dresden. „Wenn man nicht mehr jagen würde, würde der Wald nicht verschwinden. Er würde sich unter den vorhandenen Wildbeständen entwickeln. Aber er würde sich in den meisten Fällen nicht so entwickeln, wie wir Menschen uns das wünschen und dass er für die Zukunft widerstandsfähig genug wäre“, sagt Müller. Mit dem Waldumbau versuche die Forstwirtschaft eine künstlich erhöhte Baumarten-Vielfalt zu erzeugen, um den Wald auf zukünftige unbekannte Bedingungen vorzubereiten. Gleichzeitig solle der Wald aber auch wirtschaftlich Erfolg bringen, sprich nachhaltig bewirtschaftet werden. Dabei sei die Naturverjüngung das Mittel der Wahl und viel Wild ein Problem. „Das Wild ist nachweislich der vom Potenzial her bedeutsamste biotische Schadfaktor, den wir in den Wäldern haben. Bedeutsamer als Borkenkäferarten, Mäuse und alles andere Biotische zusammengenommen“, sagt der Forstwissenschaftler. „Wir Menschen haben Ansprüche an den Wald. Wir wollen die Wälder naturnäher machen, sie zur Erholung, für Schutzziele und auch wirtschaftlich nutzen. Wenn man diese Zielstellung der Gesellschaft ernst nimmt, dann kommt man nicht umhin, Faktoren, die diese Ziele beeinträchtigen zu regulieren. Das Wild ist einer dieser Faktoren“, sagt Müller.
Marlene Hertzsch zieht den Kapsel-Gehörschutz von ihrem hellblonden Dutt. Sie packt Jutetasche und Thermoskanne zusammen, schultert das Gewehr, klettert vom Ansitz. Das von ihr erlegte Reh liegt nicht weit entfernt. Kurz mustert sie die Schusswunde, packt es dann bei den Hinterläufen. Über Stock und Stein schleppt sie das gut 45 Kilogramm schwere Tier einen Hang hinauf zum zentralen Sammelpunkt. Die 26-Jährige ist angehende Försterin und gerne Jägerin. Ernährt sich die meiste Zeit vegetarisch. „Ich esse aber gerne Fleisch. Aber nur Wild, das ich selbst erlegt habe. Jagd bedeutet für mich daher, Fleisch zu essen und dabei nicht in Kauf zu nehmen, dass das Tier unter schlimmsten Bedingungen gehalten wurde oder lange Transportwege bis zum Schlachter auf sich nehmen musste. Das Tier hatte ein gutes Leben im Wald, dann knallt es im Idealfall ein Mal laut – und dann war's das. Dann hat man ein gutes Lebensmittel.“Wenn Marlene abdrückt, ist sie sich voll bewusst, dass sie ein Lebewesen tötet. „Aber für mich gehört das dazu, wenn man Fleisch essen möchte“.
Als Marlene den Sammelpunkt auf einer Wegekreuzung im Wald erreicht, sind schon viele Jäger mit ihrer Strecke, den erlegten Tieren, zurück. Auf einer großen grünen Plane liegen Rehe und einige Wildschweine in ihrem Blut. Während einige Saarforst-Mitarbeiter große Metallgestelle aufbauen, kommen die Jäger in Grüppchen zusammen. Es gibt Ur-Pils und Cola. Von einem Schwenker werden Rostwürste verteilt. Die Jäger trinken, essen, tauschen Jagdgeschichten aus.
Auch Jörg Erich Haselier und Sohn David aus Schwäbisch Gmünd sind wieder am Sammelpunkt. Haselier hatte keinen Jagd-Erfolg, doch das stört ihn nicht: „Der Tag war extrem kurzweilig. Vor allen Dingen, wenn man seinen siebenjährigen Sohn mit auf dem Stand hat. Wir haben einen Fuchs gesehen und hatten auch ein flüchtiges Reh vor unserer Bracke. Das war allerdings zu schnell und ich habe nicht geschossen.“Warum ist es dem Jäger wichtig, seinen Sohn mit auf die Jagd zu nehmen? „Ich denke, wenn Kinder nur die Bärchenmortadella kennen und nicht wissen, wo Lebensmittel tatsächlich herkommen, dann fehlt da etwas in der Vermittlung familiär und auch schulisch. Und der Junge wächst ganz natürlich mit der Jagd auf und ist mit voller Begeisterung dabei.“
Währenddessen zwängt Marlene Hertzsch zwei Metallhaken durch die Hinterläufe des von ihr erlegten Rehs. Mit einer Kurbel wird das Tier an einem Metallgestell hochgezogen. Bernd Bard, ebenfalls Saarforst-Förster, nimmt ein langes scharfes Messer und schneidet dem Reh vom Hals bis zu den Hinterbeinen mit schnellen sicheren Schnitten die Bauchdecke auf. Mit Messer, Schere und Zange weidet Bard das Reh aus, entfernt die inneren Organe von der Luftröhre bis zum Darm und wirft sie in eine große Mörtelwanne aus Plastik. Es riecht nach halb verdauten Pflanzen, Kot und gerinnendem Blut. Einige Jäger suchen sich gut erhaltene Organe, Nieren und Lebern aus der Wanne heraus. „Für die Hunde“, sagt einer. Herzen sind nur sehr wenige darunter. Die meisten wurden durch Kugeln zerfetzt. An einem langen Balken hängen am Ende der Jagd 37 Rehe und sechs Wildschweine dicht an dicht wie Kleider in einem Schrank. Die allermeisten haben nur eine Schusswunde.
„Ich kann schon verstehen, wenn man skeptisch ist, wenn man die Jagd nicht kennt“, sagt die angehende Försterin Marlene Hertzsch, „Um sich ein Urteil zu bilden, muss man sich halt mit der Jagd und ihren Hintergründen auseinandersetzen.“Für Saarforst und die jagenden Förster sind diese Hintergründe klar: Es geht darum, den Wald für die ungewisse Zukunft aufstellen und das Lebensmittel Wildfleisch zu verwerten.
Im Wald bei Hangard geht die Jagd zu Ende. Alle stellen sich im Halbkreis um Jagdleiter Sebastian Erfurt. Der überreicht jedem erfolgreichen Jäger einen „Erlegerzweig“, einen kleinen Tannenzweig, den sich die Waidmänner und -frauen stolz an Hut oder Mütze stecken. Ein Jäger hat sogar drei Rehe erschossen. Ein Jagdgenosse ruft: „Der hat was für unseren Wald getan!“