Mit dem Mut der Verzweiflung für Europa
Bei der letzten Europawahl 2019 fuhr die SPD ihr schlechtestes Ergebnis bei einer bundesweiten Wahl ein. Die damalige Spitzenkandidatin bekommt nun eine zweite Chance, die Partei gibt Katarina Barley einen Vertrauensvorschuss in schwierigen Zeiten.
Deutschland stärkste Stimmen für Europa“prangt im Berliner Congress Center am Alexanderplatz. Die prominenteste Stimme der Regierungspartei SPD ist der Bundeskanzler. Die Stimme von Olaf Scholz ist am Sonntagmorgen jedoch sehr heiser, dadurch ungewöhnlich knarzig und tief. Der Kanzler ist stark erkältet, doch die EuropaDelegiertenkonferenz seiner Partei will er sich auf keinen Fall entgehen lassen, ist er doch neben Spitzenkandidatin Katarina Barley qua Amt das Gesicht der deutschen SPDKampagne.
Der SPD-Politiker setzt bei der Europawahl am 9. Juni auf ein „klares Votum gegen rechts“. „Die Europawahl ist eine Chance das zu tun, indem man demokratische Parteien und nicht die rechten wählt“. Der beste Weg, ein Zeichen zu setzen, sei es, mit der SPD die älteste demokratische Partei zu wählen, ruft der Kanzler, soweit ihn seine Stimme trägt, kämpferisch in den Saal.
Auch versichert der deutsche Regierungschef der Ukraine erneut die anhaltende Solidarität Deutschlands im Abwehrkampf gegen Russland. Die anderen EU-Staaten ruft er wenige Tage vor einem EU-Gipfel in Brüssel dazu auf, mehr Waffen zu liefern. Scholz verweist darauf, dass Deutschland im laufenden Jahr mit mehr als sieben Milliarden Euro mehr als die Hälfte von dem bereitstelle, was die anderen EU-Länder zusammen machten. „Es kann nicht sein, dass Deutschland einen so großen Anteil hat“, betont der Kanzler. „Es muss unser Beitrag sein, viel zu tun. Aber es muss auch der Beitrag aller anderen sein, viel zu tun.“
Russlands Präsident Wladimir Putin müsse erkennen, dass sein Kalkül nicht aufgehen werde, einfach abzuwarten, bis die Unterstützung für die Ukraine nachlasse, unterstreicht Scholz. Durchhaltevermögen sei hier auch ein wichtiger Faktor, um Frieden in der Ukraine schneller möglich zu machen.
Für seine 20-minütige frei gehaltene Rede erhält der derzeit viel gescholtene Kanzler stehenden Applaus. Standing Ovations bekommt auch die Vizepräsidentin des Europaparlaments, Katarina Barley, die die SPD als Spitzenkandidatin in die Europawahl führen wird. Die 55-Jährige startet mit einer gewissen Belastung in den Wahlkampf. Sie war bereits vor fünf Jahren die Spitzenkandidatin ihrer Partei und verantwortlich für das bis
dahin schlechteste Ergebnis der SPD bei einer Europawahl.
Davon wollen die Delegierten im Januar 2024 jedoch nichts wissen. Die Sozialdemokraten wählen sie mit 98,66 Prozent der Stimmen. Barley markiert in ihrer Rede die zentralen Punkte der sozialdemokratischen Kampagne. Sie ruft zu einem entschlossenen Kampf gegen Rechtspopulisten und Autokraten in der EU auf, plädiert für mehr Rechte für Arbeitnehmer, betont den Kampf gegen den Klimawandel.
Sie setzt jedoch rhetorisch wenig Akzente, einen Höhepunkt der Rede gibt es nicht. So manch einer
wünscht sich mehr kämpferischen Einsatz, eine Frau der leisen Worte kann im Wahlkampf manchmal hinderlich sein. Doch am Sonntag versammeln sie sich dennoch alle hinter ihrer Spitzenkandidatin. Denn die SPD ist gebeutelt in diesen Tagen, die bundesweiten Umfragen sind schlecht, das Ansehen des Bundeskanzlers hat stark gelitten. Doch die Genossen machen sich selbst Mut. Auch am Sonntag gibt es keine offen vorgetragene Kritik am Kanzler oder der Parteiführung.
Stattdessen erhält Parteichef Lars Klingbeil viel Applaus, der seine Partei auf einen harten Wahlkampf
einschwört. Mit Blick auf Rechtspopulisten und AfD sagt Klingbeil: „Die Feinde der Demokratie haben sich aufgemacht, die wollen Europa zerschlagen – wir wollen Europa stärken.“Anders als die AfD wolle die SPD die Uhr nicht zurückdrehen. AfD-Chefin Alice Weidel hatte zuletzt von einem Austritt Deutschlands aus der EU gesprochen.
Klingbeil greift auch einen neuen politischen Gegner an. Das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) berufe sich bei der Kritik an deutschen Waffenlieferungen zu Unrecht auf den früheren SPD-Bundeskanzler Willy Brandt. „Aber Willy Brandt
und Helmut Schmidt hätten ihre europäischen Freunde niemals im Stich gelassen, so wie das BSW das vorhat“, ruft er unter starkem Beifall der Delegierten. Die SPD stehe fest an der Seite der Ukraine. „Das ist der Unterschied zu denen, die in Talkshows sitzen, die Bücher verkaufen, sich immer weggedrückt haben, wenn es um politische Verantwortung geht.“Die ehemalige Linken-Politikerin Wagenknecht ist häufig in Talkshows zu Gast. Ihre neue Partei traf sich am Samstag in Berlin zum ersten Parteitag. Die SPD hat den Kampf um die Stimmen aufgenommen.