Die Wehrpflicht ist nur in einer neuen Form sinnvoll
Es ist nicht verwunderlich, dass inzwischen kaum ein Tag ohne neue Beiträge zur Wehrpflichtdebatte vergeht. Der Pflichtdienst für Männer war 2011 nach fünfeinhalb Jahrzehnten entfallen, als er nicht mehr sinnvoll und nicht mehr notwendig war. Nach der Verkürzung auf sechs Monate konnte von einer gründlichen militärischen Ausbildung keine Rede mehr sein. Zudem gab es keine sicherheitspolitische Begründung mehr für den tiefen Eingriff des Staates in die Freiheitsrechte junger Männer. Der Kalte Krieg war durch vertrauensvolle Zusammenarbeit in Europa ersetzt worden. Für den Fall, dass sich das einmal ändern würde, war die Wehrpflicht im Grundgesetz geblieben, damit sie jederzeit durch einfachen Gesetzesakt wiedereingeführt werden kann. Die Zeiten haben sich geändert. Sie ist wieder notwendig, und zwar dringend. Doch sinnvoll ist sie derzeit nicht.
Wer heute die Wehrpflicht nach dem alten Muster neu starten wollte, müsste erst einmal Kreiswehrersatzämter aus dem Boden stampfen, Mitarbeiter für die Musterung einstellen, Betten, Bekleidung und Waffen für 100 000 Menschen kaufen – und könnte immer noch nicht beginnen.
Denn es müssten erst auch noch Unterkünfte gebaut und die Ausbilder eingestellt und ausgebildet werden.
Das alles dauert – und es kostet Milliarden. Dieses Geld ist aktuell besser ausgegeben für eine Modernisierung der Waffen und ein Auffüllen der Munitionslager. Würde Deutschland im Format einer russischen „Spezialoperation“angegriffen, ginge der Truppe nach zwei Tagen die Munition aus. Die Landesverteidigung ist nur symbolisch, nicht tatsächlich möglich. So lange das nicht gründlich anders geworden ist, würde eine überstürzte Wiederbelebung die Lücken nur vergrößern.
Weil die Freiheitsordnung Europas nicht nur kurzfristig und theoretisch, sondern langfristig und konkret bedroht ist, kann sie nur durch eine glaubwürdige Abschreckung gesichert werden. Dafür braucht es auch eine ausreichend große Zahl einsetzbarer und qualifizierter Soldaten und Reservisten. Die alte Wehrpflicht kann das nicht gewährleisten. Sie erfüllt mit ihrer Beschränkung auf Männer die gewandelte Vorstellung von Gleichberechtigung nicht mehr. Ganz zu schweigen vom fragwürdigen Verzicht auf die Hälfte des potenziell qualifizierten Personals. Und sie vermag die Wehrgerechtigkeit nicht zu garantieren, wenn nur zehn bis 15 Prozent eines Jahrganges einberufen werden.
Die modifizierte Wehrpflicht sollte darin bestehen, alle 18-Jährigen zu erfassen und ihnen ein Angebot zu machen, das sie persönlich und fachlich nicht nur in militärischer Hinsicht weiterbringt, sondern eine Win-WinSituation schafft: Die Truppe soll auf qualifiziertes Personal zurückgreifen können, die Wehrpflichtigen müssen nach ihrem Dienst Startvorteile im Berufsleben erleben können. Das alles ist um die Perspektive einer arbeitsteilig organisierten Europaarmee zu ergänzen. Es ist nicht sinnvoll, schnell in die alte Wehrpflicht zurückzufallen, aber es ist sinnvoll, mit den sorgfältigen Vorbereitungen für eine neue Wehrpflicht bald zu beginnen.