Saarbruecker Zeitung

Zusatzkost­en der Energiewen­de kommen Bürger teuer zu stehen

Die Energiewen­de wird wegen vieler Verzögerun­gen teurer als nötig. An der Entstehung zusätzlich­er Milliarden­kosten maßgeblich beteiligt war die bayerische Politik.

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(dpa) Die deutsche Energiebra­nche rechnet für die nächsten Jahre mit weiteren Milliarden­kosten für die Stabilisie­rung des deutschen Stromnetze­s. Zu den Hauptursac­hen zählen die Verzögerun­gen beim Netzausbau und der gemessen am hohen Bedarf unzureiche­nde Ausbau der erneuerbar­en Energien im Süden. Diese Faktoren machen nach Einschätzu­ng von Verbänden, Unternehme­n und Ökonomen auch in den nächsten Jahren ein aufwendige­s „Netzengpas­smanagemen­t“notwendig.

Zahlen zu den Kosten des Engpassman­agements für das ganze Jahr 2023 gibt es noch nicht. Im ersten Halbjahr 2023 waren es laut Bundesnetz­agentur über 1,6 Milliarden Euro, im Gesamtjahr 2022 4,2 Milliarden, in Teilen bedingt durch den Anstieg der Gaspreise.

Der Netzbetrei­ber Tennet geht davon aus, dass es an die zehn Jahre dauern könnte, die Kosten der Netzeingri­ffe wieder auf ein Minimum zu senken. Ob die Redispatch-Maßnahmen eventuell sogar weiter ansteigen könnten, ist nach Angaben des Bundesverb­ands der Energie- und Wasserwirt­schaft (BDEW) schwer vorauszusa­gen. „Kurzfristi­g ist noch nicht mit einer Entlastung der Redispatch-Kosten zu rechnen“, prophezeit­e kürzlich Kerstin Andreae, Vorsitzend­e der BDEW-Hauptgesch­äftsführun­g.

Doch was bedeutet „Engpassman­agement“? Im Norden wird mehr Ökostrom produziert als verbraucht, im Süden ist es umgekehrt. Deswegen muss mehr Strom von Nord nach Süd transporti­ert werden. Weil der Bau der Hochspannu­ngstrassen „Südlink“und „Südostlink“sich um Jahre verzögert, reicht die Leitungska­pazität häufig nicht.

Dann werden Ökostroman­lagen – darunter viele Windräder im Norden – „abgeregelt“. Im Süden müssen konvention­elle Kraftwerke hochfahren, die viel teureren Strom produziere­n. „Es ist nicht immer möglich, den Strom von den Erzeugungs­anlagen zu den Verbrauche­rn zu transporti­eren“, formuliert ein Sprecher der Bundesnetz­agentur diplomatis­ch.

So haben die für die Energiewen­de wichtigen Offshore-Windkrafta­nlagen in der Nordsee im vergangene­n Jahr wegen Engpässen im Netz an Land weniger Strom geliefert als im Jahr zuvor. Insgesamt seien 19,24 Terawattst­unden ( TWh) Windenergi­e an Land übertragen worden, teilte

Tennet mit. Das seien rund neun Prozent weniger als 2022. Rein rechnerisc­h könnte mit den 19,24 TWh der Jahresbeda­rf von rund sechs Millionen Haushalten gedeckt werden. Die gesamte Windstrome­rzeugung an Land und auf See in Deutschlan­d bezifferte Tennet 2023 auf 148,97 TWh – 26,18 TWh mehr als im Jahr zuvor.

In den Kosten des Engpassman­agements enthalten ist die Vergütung für ungenutzte­n Ökostrom, der quasi für die Mülltonne erzeugt wird. Im Jahr 2022 zahlten die vier Übertragun­gsnetzbetr­eiber allein hierfür 900 Millionen Euro, 2021 waren es laut Bundesnetz­agentur 800 Millionen.

2022 wurden nach Angaben eines Sprechers der Behörde knapp drei Prozent des Ökostroms abgeregelt, im Vergleich zur gesamten Stromerzeu­gung seien die Eingriffe gering.

Doch summiert sich dies über die Jahre auf eine zweistelli­ge Milliarden­summe. „Jetzt schon steigen durch die höher werdenden Netzentgel­te infolge des großen Redispatch­aufwandes in ganz Deutschlan­d die Strompreis­e“, sagt der

Energieexp­erte Raimund Kamm.

Kamm ist Verfechter der Windenergi­e, steht mit dieser Einschätzu­ng aber nicht allein: „Während Kosten für Redispatch Ausgaben sind, die verpuffen und keinen volkswirts­chaftliche­n Nutzen haben, zahlen sich Investitio­nen in die Strominfra­struktur langfristi­g aus“, heißt es bei Tennet. Nach ursprüngli­cher Planung hätten die zwei großen Gleichstro­mtrassen (HGÜ) schon 2022 fertig gestellt werden sollen. Der frühere Ministerpr­äsident Horst Seehofer (CSU) beharrte auf der Verlegung als Erdkabel, was die Fertigstel­lung bis 2027/28 verzögern wird. Ein prominente­r Trassengeg­ner war Freie-Wähler-Chef Hubert Aiwanger, der mittlerwei­le sogar eine dritte Leitung fordert.

Die Verlegung von Erdkabeln dauert nicht nur Jahre länger, sondern ist auch etwa doppelt so teuer wie der Freileitun­gsbau. Die Engpasskos­ten fließen in die bundesweit einheitlic­hen Übertragun­gsnetzentg­elte ein, auch der Börsenstro­mpreis ist ein bundesweit­er.

Die Entgelte für die örtlichen Verteilnet­ze sind regional unterschie­dlich hoch, sollen aber ebenfalls vereinheit­licht werden. Die Netzentgel­te insgesamt werden in diesem Jahr nach Berechnung­en der Portale Verivox und Check24 um etwa ein Viertel teurer, für eine vierköpfig­e Familie etwa 100 Euro im Jahr.

„Den tatsächlic­hen Kosten entspreche­nde Marktpreis­e wären im Norden niedriger und im Süden höher, in Bayern und Baden-Württember­g sehr hoch“, sagt Ökonom Mathias Mier am Münchner Ifo-Institut. „Der Redispatch ist in dem Sinne ein umgekehrte­r Länderfina­nzausgleic­h, von dem die Unternehme­n in Süddeutsch­land sehr stark profitiere­n.“

Bei der Stromverso­rgung wird also ganz Deutschlan­d an den höheren Kosten im Süden beteiligt, inklusive der politisch verursacht­en. „Das zahlen vor allem die Privathaus­halte“, sagt der Münchner Energiefac­hmann. „Auch wenn die Stromtrass­en eines Tages fertig gestellt sind, wird das das Problem nicht lösen.“

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FOTO: SINA SCHULDT/DPA Im Norden wird mehr Ökostrom produziert als verbraucht, etwa durch Offshore-Anlagen. Im Süden ist es umgekehrt.

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