Wie man als Forscher „mit der Zeit geht“
HTW-Professor Horst Wieker zieht Jahr für Jahr im Schnitt zwei Millionen Euro an Drittmitteln an Land. Mit seiner Forschungsgruppe Verkehrstelematik gilt Wieker deutschlandweit als Experte für Fahrzeugkommunikation. Was ist damit gemeint? Und an welchen P
Fragt man Horst Wieker, welches der acht Forschungsprojekte, die er derzeit als Leiter der Forschungsgruppe Telematik (FGVT) an der HTW (Hochschule für Technik und Wirtschaft) am Laufen hat, das ambitionierteste ist, muss er nicht lange überlegen: „GAIA-X4 moveID“. Gemeint ist damit ein intelligentes Verkehrsmanagementsystem, in das Wiekers Forschungsgruppe ihr über Jahre gewonnenes Knowhow über Car-to-Car-Kommunikation mittels 5G-Mobilfunknetz einbringt. Konkret geht es etwa darum, Einsatzfahrzeugen (ob Notärzten, Polizei oder Feuerwehren) künftig zu ermöglichen, per Mobilfunksensorik Ampelanlagen bei Bedarf freizuschalten.
Das „moveID“-Projekt, bei dem die FGVT laut Wieker die wissenschaftliche Leitung hat, ist Teil eines federführend von Deutschland und Frankreich bereits vor einigen Jahren unter dem Namen „GAIA-X“auf den Weg gebrachten, von der EU kofinanzierten Großprojekts. Ziel ist der Aufbau eines geschützten, vertrauenswürdigen europäischen Daten-Infrastruktursystems, mit dem Europa sich aus den Fängen der Branchenriesen und marktführenden CloudAnbieter Google, Microsoft und AWS (einer Amazon-Tochter) befreien will. Auch wenn es zuletzt ziemlich still geworden ist um die 2018 mit viel politischem Tamtam promotete GAIA-X -Initiative, sieht Wieker weiterhin ungeheures Potenzial. Über seine Forschungsgruppe Verkehrstelematik (ein Kunstwort aus Telekommunikation und Informatik) ist die HTW in gleich drei GAIA-X Projekte eingebunden, über die rund vier Millionen Euro nach Saarbrücken fließen. Genauer gesagt auf den Innovationscampus nach Burbach, wo er mit seiner nahezu 30-köpfigen Truppe (darunter sieben studentische Hilfskräfte) im HTW-Hochschul-Technologie-Zentrum (HTZ) sitzt. Zusammen mit weiteren Instituten und HTW-Ausgründungen in einer schicken, umgenutzten alten Industriehalle.
Wieker, aus Delmenhorst stammend und seinem Naturell nach ein ebenso schlagfertiger wie offenherziger Typ, ist ein HTW-Urgestein und hat seit 1996 die Professur für Kommunikations- und Vermittlungs
technik inne. Als er hier anfing, ließ Wieker sich – vor seiner HTW-Berufung arbeitete er bei Siemens in München als Systemingenieur und leitete dort auch größere Systemtests – eine ausgemusterte Siemens-Telekommunikationsanlage nach Saarbrücken schicken. „Die kam in einer Seekiste“, erinnert er sich. Damit baute er dann an der HTW sein Labor auf. „Die waren damals hier komplett blank. An Ausstattung gab es nichts. Ich habe hier alles neu aufgebaut.“
Über seinen damaligen HTW-Kollegen, den inzwischen emeritierten Fahrzeugtechniker Wolfram Seibert, bekam Wieker vor gut 20 Jahren einen Fuß in die Automobilindustrie. Dass er „schon immer Benzin im Blut“hatte, machte die Sache leichter. Kurz darauf zog er ein EU-Projekt zum vernetzten Fahren an Land, dem seither 25 weitere folgten. Über die Jahre avancierte Horst Wieker so zu einem der forschungsaktivsten HTW-Professoren. O-Ton Wieker: „Was glauben Sie, wie ich mir sonst mehr als 20 Vollzeitmitarbeiter leisten könnte?“Zum Team gehören vorrangig Kommunikationsinformatiker, aber auch Ökonomen, Experimentalphysiker und Elektrotechniker.
Schnell machte sich Horst Wieker als Telematiker einen Namen. Seine Forschung kreist um systemische Ansätze in der Verkehrs- und Kommunikationsinfrastruktur, kurzum ums „vernetztes Fahren“. Längst ist er mit der FGVT gut im Geschäft. Mit der Autobahn GmbH etwa besteht ein Kooperationsvertrag, in dem es um neue Anwendungen in der vernetzten Verkehrssteuerung geht. Was
Wieker dabei „Systemarchitektur“nennt, meint die per Funk gesteuerte, vernetzte Kommunikation zwischen Bordcomputern in Fahrzeugen und den an Ampeln, Schilderbrücken und Baustelleneinrichtungen angebrachten, unscheinbaren W-LAN-Sensorkästen. Binnen Millisekunden lassen sich darüber Stau-, Baustellen- oder Falschfahrer-Warnungen senden, um dadurch Unfälle zu minimieren und den Verkehrsfluss zu optimieren.
Mehrere telematische Versuchsfahrzeuge, die mit modernster Sensorik ausgestattet sind, stehen in der Halle in Burbach. Im Vorbeigehen erzählt einem Wieker, dass sein Team unter anderem gerade dabei ist, in als Baustellenabsperrungen dienenden Pylonen (besser bekannt als weißorangene Plastikhütchen) spezielle Sensorsysteme einzubauen, die zum Schutz des Straßenmeisterpersonals bis auf zehn Zentimeter genau deren Positionsbestimmung an alle sich nähernden Verkehrsteilnehmer weitergeben. „Mit jedem Projekt gewinnt man neue Erkenntnisse, die man dann wieder auf neue Projekte und Themen anwenden kann“, umreißt der HTW-Professor sein Prinzip, „mit der Zeit zu gehen“, wie er's nennt. Man müsse „die richtigen Leute kennen und mit denen reden“. Beschei
denheit ist Wiekers Sache nicht. Er hat allerdings auch einiges vorzuweisen. Jedes Jahr wirbt er im Schnitt zwei Millionen Euro an Drittmitteln ein.
So sehr seine Frau und er sich im Saarland und in ihrem Haus in Klarenthal auch wohlfühlen („die Saarländer sind nette, offene Leute. Leben und leben lassen, hält man hier hoch. Da ist man im Norden spießiger“): Was das Wirtschaftsleben angehe, sei man hier dagegen bisweilen „etwas ängstlich und kleinkariert und reitet manchmal tote Pferde“.
Wieker denkt in Sachen Mobilitätskonzepte lieber groß. Derzeit tüftelt man etwa an fälschungssicheren „digitalen Fahrzeug-Identitäten“, mit denen es künftig möglich sein soll, anhand zertifizierter Dokumente anonymisierte Bezahlkonten an Ladestationen oder in Parkhäusern einzurichten. Vorteil: Gespeicherte Daten blieben personengeschützt, ohne dass etwa Google & Co unsere Routen erfassen könnten. Das Thema Privatsphäre und Datensicherheit werde immer wichtiger, holt Wieker aus. Statt sich persönlich auszuweisen, passiere dies an der Parkschranke oder Ladestation mittels bestimmter zertifizierter Eigenschaften (etwa Nachweis der Zahlungsfähigkeit, Fahrzeuggröße, Zugangsberechtigung). Am Monatsende erhalte man die Kostenabrechnung. Noch ist das Zukunftsmusik, in ein paar Jahren womöglich Alltag.
Mit den Jahren hat Wiekers Mobilitätsforschung nicht nur immer stärker auch ökonomische Verwertungszusammenhänge in den Blick genommen, sondern auch das, was
er „Akzeptanzfragen von moderner Technologie“nennt. Wohl auch aus Gründen des Selbsterhalts: Schauen Politik und Industrie inzwischen doch sehr viel genauer darauf, welche Projekte sich etwa im Kontext des (teil-) autonomen Fahrens am Markt und in der Bevölkerung platzieren lassen. Das Anwendungspotenzial der wissenschaftlichen Erkundungen hierzu wird stärker auf seine Praktikabilität abgeklopft. Dabei geht es etwa um die Frage, inwieweit Interna von Autoherstellern oder Zulieferern geschützt bleiben. Dies gilt besonders bei der Zulassung und Überwachung von Fahrzeugsystemen im Feld, also Autos die auf der Straße fahren. Denn Zulieferer wie Bosch und Continental müssen dem Kraftfahrtbundesamt über die Zuverlässigkeit ihrer Systeme Rechenschaft ablegen. Diese Daten können sie aber nur von den Fahrzeugherstellern bekommen, die sich aber nicht komplett in die Karten schauen lassen, damit keine direkten Rückschlüsse auf Modellreihen erfolgen können.
Horst Wiekers Forschungsteam wird im Saarland nicht zuletzt mit dem Testfeld Merzig verbunden, wo man seit Jahren Kommunikationstechniken für das (teil-)autonome Fahren von morgen erprobt. Das Testfeld sei von großer Bedeutung, „weil wir dort unsere Neuentwicklungen ausprobieren und auch unsere Projektpartner es nutzen können, ohne dass man es an die große Glocke hängen muss“, meint er. Wie man Strippen zieht, hat der 64-Jährige gelernt. Sein Projektportfolio kann sich jedenfalls sehen lassen.
„Was glauben Sie, wie ich mir sonst mehr als 20 Vollzeitmitarbeiter leisten könnte?“Horst Wieker HTW-Professor mit satter Drittmittelbilanz