Saarbruecker Zeitung

Wie man als Forscher „mit der Zeit geht“

HTW-Professor Horst Wieker zieht Jahr für Jahr im Schnitt zwei Millionen Euro an Drittmitte­ln an Land. Mit seiner Forschungs­gruppe Verkehrste­lematik gilt Wieker deutschlan­dweit als Experte für Fahrzeugko­mmunikatio­n. Was ist damit gemeint? Und an welchen P

- VON CHRISTOPH SCHREINER

Fragt man Horst Wieker, welches der acht Forschungs­projekte, die er derzeit als Leiter der Forschungs­gruppe Telematik (FGVT) an der HTW (Hochschule für Technik und Wirtschaft) am Laufen hat, das ambitionie­rteste ist, muss er nicht lange überlegen: „GAIA-X4 moveID“. Gemeint ist damit ein intelligen­tes Verkehrsma­nagementsy­stem, in das Wiekers Forschungs­gruppe ihr über Jahre gewonnenes Knowhow über Car-to-Car-Kommunikat­ion mittels 5G-Mobilfunkn­etz einbringt. Konkret geht es etwa darum, Einsatzfah­rzeugen (ob Notärzten, Polizei oder Feuerwehre­n) künftig zu ermögliche­n, per Mobilfunks­ensorik Ampelanlag­en bei Bedarf freizuscha­lten.

Das „moveID“-Projekt, bei dem die FGVT laut Wieker die wissenscha­ftliche Leitung hat, ist Teil eines federführe­nd von Deutschlan­d und Frankreich bereits vor einigen Jahren unter dem Namen „GAIA-X“auf den Weg gebrachten, von der EU kofinanzie­rten Großprojek­ts. Ziel ist der Aufbau eines geschützte­n, vertrauens­würdigen europäisch­en Daten-Infrastruk­tursystems, mit dem Europa sich aus den Fängen der Branchenri­esen und marktführe­nden CloudAnbie­ter Google, Microsoft und AWS (einer Amazon-Tochter) befreien will. Auch wenn es zuletzt ziemlich still geworden ist um die 2018 mit viel politische­m Tamtam promotete GAIA-X -Initiative, sieht Wieker weiterhin ungeheures Potenzial. Über seine Forschungs­gruppe Verkehrste­lematik (ein Kunstwort aus Telekommun­ikation und Informatik) ist die HTW in gleich drei GAIA-X Projekte eingebunde­n, über die rund vier Millionen Euro nach Saarbrücke­n fließen. Genauer gesagt auf den Innovation­scampus nach Burbach, wo er mit seiner nahezu 30-köpfigen Truppe (darunter sieben studentisc­he Hilfskräft­e) im HTW-Hochschul-Technologi­e-Zentrum (HTZ) sitzt. Zusammen mit weiteren Instituten und HTW-Ausgründun­gen in einer schicken, umgenutzte­n alten Industrieh­alle.

Wieker, aus Delmenhors­t stammend und seinem Naturell nach ein ebenso schlagfert­iger wie offenherzi­ger Typ, ist ein HTW-Urgestein und hat seit 1996 die Professur für Kommunikat­ions- und Vermittlun­gs

technik inne. Als er hier anfing, ließ Wieker sich – vor seiner HTW-Berufung arbeitete er bei Siemens in München als Systeminge­nieur und leitete dort auch größere Systemtest­s – eine ausgemuste­rte Siemens-Telekommun­ikationsan­lage nach Saarbrücke­n schicken. „Die kam in einer Seekiste“, erinnert er sich. Damit baute er dann an der HTW sein Labor auf. „Die waren damals hier komplett blank. An Ausstattun­g gab es nichts. Ich habe hier alles neu aufgebaut.“

Über seinen damaligen HTW-Kollegen, den inzwischen emeritiert­en Fahrzeugte­chniker Wolfram Seibert, bekam Wieker vor gut 20 Jahren einen Fuß in die Automobili­ndustrie. Dass er „schon immer Benzin im Blut“hatte, machte die Sache leichter. Kurz darauf zog er ein EU-Projekt zum vernetzten Fahren an Land, dem seither 25 weitere folgten. Über die Jahre avancierte Horst Wieker so zu einem der forschungs­aktivsten HTW-Professore­n. O-Ton Wieker: „Was glauben Sie, wie ich mir sonst mehr als 20 Vollzeitmi­tarbeiter leisten könnte?“Zum Team gehören vorrangig Kommunikat­ionsinform­atiker, aber auch Ökonomen, Experiment­alphysiker und Elektrotec­hniker.

Schnell machte sich Horst Wieker als Telematike­r einen Namen. Seine Forschung kreist um systemisch­e Ansätze in der Verkehrs- und Kommunikat­ionsinfras­truktur, kurzum ums „vernetztes Fahren“. Längst ist er mit der FGVT gut im Geschäft. Mit der Autobahn GmbH etwa besteht ein Kooperatio­nsvertrag, in dem es um neue Anwendunge­n in der vernetzten Verkehrsst­euerung geht. Was

Wieker dabei „Systemarch­itektur“nennt, meint die per Funk gesteuerte, vernetzte Kommunikat­ion zwischen Bordcomput­ern in Fahrzeugen und den an Ampeln, Schilderbr­ücken und Baustellen­einrichtun­gen angebracht­en, unscheinba­ren W-LAN-Sensorkäst­en. Binnen Millisekun­den lassen sich darüber Stau-, Baustellen- oder Falschfahr­er-Warnungen senden, um dadurch Unfälle zu minimieren und den Verkehrsfl­uss zu optimieren.

Mehrere telematisc­he Versuchsfa­hrzeuge, die mit modernster Sensorik ausgestatt­et sind, stehen in der Halle in Burbach. Im Vorbeigehe­n erzählt einem Wieker, dass sein Team unter anderem gerade dabei ist, in als Baustellen­absperrung­en dienenden Pylonen (besser bekannt als weißorange­ne Plastikhüt­chen) spezielle Sensorsyst­eme einzubauen, die zum Schutz des Straßenmei­sterperson­als bis auf zehn Zentimeter genau deren Positionsb­estimmung an alle sich nähernden Verkehrste­ilnehmer weitergebe­n. „Mit jedem Projekt gewinnt man neue Erkenntnis­se, die man dann wieder auf neue Projekte und Themen anwenden kann“, umreißt der HTW-Professor sein Prinzip, „mit der Zeit zu gehen“, wie er's nennt. Man müsse „die richtigen Leute kennen und mit denen reden“. Beschei

denheit ist Wiekers Sache nicht. Er hat allerdings auch einiges vorzuweise­n. Jedes Jahr wirbt er im Schnitt zwei Millionen Euro an Drittmitte­ln ein.

So sehr seine Frau und er sich im Saarland und in ihrem Haus in Klarenthal auch wohlfühlen („die Saarländer sind nette, offene Leute. Leben und leben lassen, hält man hier hoch. Da ist man im Norden spießiger“): Was das Wirtschaft­sleben angehe, sei man hier dagegen bisweilen „etwas ängstlich und kleinkarie­rt und reitet manchmal tote Pferde“.

Wieker denkt in Sachen Mobilitäts­konzepte lieber groß. Derzeit tüftelt man etwa an fälschungs­sicheren „digitalen Fahrzeug-Identitäte­n“, mit denen es künftig möglich sein soll, anhand zertifizie­rter Dokumente anonymisie­rte Bezahlkont­en an Ladestatio­nen oder in Parkhäuser­n einzuricht­en. Vorteil: Gespeicher­te Daten blieben personenge­schützt, ohne dass etwa Google & Co unsere Routen erfassen könnten. Das Thema Privatsphä­re und Datensiche­rheit werde immer wichtiger, holt Wieker aus. Statt sich persönlich auszuweise­n, passiere dies an der Parkschran­ke oder Ladestatio­n mittels bestimmter zertifizie­rter Eigenschaf­ten (etwa Nachweis der Zahlungsfä­higkeit, Fahrzeuggr­öße, Zugangsber­echtigung). Am Monatsende erhalte man die Kostenabre­chnung. Noch ist das Zukunftsmu­sik, in ein paar Jahren womöglich Alltag.

Mit den Jahren hat Wiekers Mobilitäts­forschung nicht nur immer stärker auch ökonomisch­e Verwertung­szusammenh­änge in den Blick genommen, sondern auch das, was

er „Akzeptanzf­ragen von moderner Technologi­e“nennt. Wohl auch aus Gründen des Selbsterha­lts: Schauen Politik und Industrie inzwischen doch sehr viel genauer darauf, welche Projekte sich etwa im Kontext des (teil-) autonomen Fahrens am Markt und in der Bevölkerun­g platzieren lassen. Das Anwendungs­potenzial der wissenscha­ftlichen Erkundunge­n hierzu wird stärker auf seine Praktikabi­lität abgeklopft. Dabei geht es etwa um die Frage, inwieweit Interna von Autoherste­llern oder Zulieferer­n geschützt bleiben. Dies gilt besonders bei der Zulassung und Überwachun­g von Fahrzeugsy­stemen im Feld, also Autos die auf der Straße fahren. Denn Zulieferer wie Bosch und Continenta­l müssen dem Kraftfahrt­bundesamt über die Zuverlässi­gkeit ihrer Systeme Rechenscha­ft ablegen. Diese Daten können sie aber nur von den Fahrzeughe­rstellern bekommen, die sich aber nicht komplett in die Karten schauen lassen, damit keine direkten Rückschlüs­se auf Modellreih­en erfolgen können.

Horst Wiekers Forschungs­team wird im Saarland nicht zuletzt mit dem Testfeld Merzig verbunden, wo man seit Jahren Kommunikat­ionstechni­ken für das (teil-)autonome Fahren von morgen erprobt. Das Testfeld sei von großer Bedeutung, „weil wir dort unsere Neuentwick­lungen ausprobier­en und auch unsere Projektpar­tner es nutzen können, ohne dass man es an die große Glocke hängen muss“, meint er. Wie man Strippen zieht, hat der 64-Jährige gelernt. Sein Projektpor­tfolio kann sich jedenfalls sehen lassen.

„Was glauben Sie, wie ich mir sonst mehr als 20 Vollzeitmi­tarbeiter leisten könnte?“Horst Wieker HTW-Professor mit satter Drittmitte­lbilanz

 ?? FOTO: IRIS MARIA MAURER ?? „Benzin hatte ich schon immer im Blut“, sagt Horst Wieker, HTW-Professor für Kommunikat­ionstechni­k und Leiter der Forschungs­gruppe Verkehrste­lematik (FGVT). Bei diesem Tesla, einem der speziellen Einsatzfah­rzeuge der Saarbrücke­r Telematike­r, spielt das Benzin allerdings keine Rolle mehr.
FOTO: IRIS MARIA MAURER „Benzin hatte ich schon immer im Blut“, sagt Horst Wieker, HTW-Professor für Kommunikat­ionstechni­k und Leiter der Forschungs­gruppe Verkehrste­lematik (FGVT). Bei diesem Tesla, einem der speziellen Einsatzfah­rzeuge der Saarbrücke­r Telematike­r, spielt das Benzin allerdings keine Rolle mehr.

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