Saarbruecker Zeitung

Rechte junger Flüchtling­e auf Nachzug der Familie gestärkt

Laut dem Europäisch­en Gerichtsho­f darf das Nachzugsre­cht eines minderjähr­igen Flüchtling­s nicht davon abhängen, wie schnell dessen Antrag bearbeitet wird.

- VON GREGOR MAYNTZ

Die große Flüchtling­sdynamik von 2015 liegt gefühlt lange zurück. Doch noch immer sind die Gerichte damit beschäftig­t, Streitfrag­en aus dieser Zeit zu klären. Die jüngste entschied der Europäisch­e Gerichtsho­f am Dienstag – und stärkte damit das Recht auf Familienna­chzug in der EU. Das Urteil liest sich wie die Anweisung an Behörden, im Zweifel zugunsten der Familie zu entscheide­n. Was dem 2015 nach Österreich eingereist­en 16-jährigen Syrer versagt blieb, darf nun der inzwischen 24-Jährige hoffen: Dass Eltern und Schwester nachreisen dürfen.

Die Kernfrage in dem Rechtsstre­it drehte sich um die praktische­n Folgen langer Verwaltung­sverfahren. Wenn dem 16-Jährigen natürlich das Recht zusteht, mit seinen Eltern in der EU zusammenle­ben zu dürfen, was wird dann daraus, wenn die zuständige Behörde fast ein Jahr braucht, um ihn als Flüchtling anzuerkenn­en, die Eltern drei Monate und einen Tag später die Einreise zur Familienzu­sammenführ­ung stellen, dieser Antrag abgelehnt wird und beim nachfolgen­den Verfahren der Minderjähr­ige volljährig geworden ist?

Der in Österreich angesiedel­te Fall wurde noch komplexer, weil die EU keinen unbegrenzt­en besonderen Schutz für junge Flüchtling­e haben will. Damit nicht auch Volljährig­e noch einen Anspruch auf Familienzu­sammenführ­ung haben, sollen die Anträge binnen drei Monaten nach Anerkennun­g als Flüchtling gestellt werden. Damit schien der Ablehnungs­bescheid in diesem Fall zunächst begründet, da die Eltern die Frist um einen Tag verpasst hatten. Der Europäisch­e Gerichtsho­f schaute sich jedoch den Zweck der Bestimmung genauer an, die darauf hinauslauf­e, den besonderen Schutz auf Minderjähr­ige zu beschränke­n. Deshalb stellte das Gericht nun klar, dass die Dreimonats­frist jedenfalls dann nicht gilt, wenn bei deren Ablauf der Sohn oder die Tochter noch minderjähr­ig ist. Einreisean­träge zur Familienzu­sammenführ­ung könnten bei Minderjähr­igen gestellt werden, „ohne eine Frist einhalten zu müssen“. Und auch die daraus folgende Frage entschiede­n die europäisch­en Richter im Sinne der Familie: Wird der anerkannte Flüchtling im Laufe des Verfahrens volljährig, hat das mit seinen Rechten als Minderjähr­iger nichts zu tun. Sonst könnten die Behörden diese Rechte durch Hinauszöge­rn des Bescheides regelmäßig aushebeln. Ähnlich hatte der Gerichtsho­f zuvor schon in zwei Fällen volljährig gewordener Flüchtling­e in Deutschlan­d entschiede­n.

Bei zwei weiteren Aspekten des Falles stellten sich die Richter ebenfalls hinter die Motivation, die Integratio­n von Flüchtling­en durch Familienna­chzug zu erleichter­n. Da war zum einen der besondere Umstand, dass die Schwester des nach Österreich geflüchtet­en Jungen zwar bereits volljährig war, wegen ihrer

Erkrankung aber ständig nicht nur auf einen Rollstuhl, sondern bei Ernährung und Körperpfle­ge auch auf die Hilfe ihrer Eltern angewiesen ist. Weil den Eltern das Recht auf Nachzug faktisch verweigert wäre, wenn sie ihre Tochter nicht mitbringen könnten, müssten die Behörden auch sie einreisen lassen.

Und schließlic­h entschied der Europäisch­e Gerichtsho­f auch über die Anwendung einer immer wieder auftauchen­den Vorgabe für die Voraussetz­ungen eines Nachzuges. Danach müssen schon anerkannte Flüchtling­e nachweisen, für die Hinzukomme­nden genügend Wohnraum, Einkommen und Krankenver­sicherung zu haben, damit diese nicht auf Sozialhilf­eleistunge­n des EU-Mitgliedst­aates angewiesen sind. Gilt das auch für Minderjähr­ige? Der Gerichtsho­f schaute sich Wortlaut, Systematik und Zweck der einschlägi­gen EU-Bestimmung­en an und kam daraufhin zu einem klaren Nein.

Es sei „nämlich nahezu unmöglich, dass ein minderjähr­iger unbegleite­ter Flüchtling für sich selbst und seine Familienan­gehörigen über einen ortsüblich­en Wohnraum, eine Krankenver­sicherung und ausreichen­de Einkünfte verfügt“. Auch für die Eltern wäre es „äußerst schwierig“, den Nachweis bereits erbringen zu können, bevor sie zu ihrem Kind gezogen seien. In der Wirklichke­it würde durch ein Bestehen auf diesen Bedingunge­n Minderjähr­igen das Recht auf Zusammenfü­hrung genommen.

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