Rechte junger Flüchtlinge auf Nachzug der Familie gestärkt
Laut dem Europäischen Gerichtshof darf das Nachzugsrecht eines minderjährigen Flüchtlings nicht davon abhängen, wie schnell dessen Antrag bearbeitet wird.
Die große Flüchtlingsdynamik von 2015 liegt gefühlt lange zurück. Doch noch immer sind die Gerichte damit beschäftigt, Streitfragen aus dieser Zeit zu klären. Die jüngste entschied der Europäische Gerichtshof am Dienstag – und stärkte damit das Recht auf Familiennachzug in der EU. Das Urteil liest sich wie die Anweisung an Behörden, im Zweifel zugunsten der Familie zu entscheiden. Was dem 2015 nach Österreich eingereisten 16-jährigen Syrer versagt blieb, darf nun der inzwischen 24-Jährige hoffen: Dass Eltern und Schwester nachreisen dürfen.
Die Kernfrage in dem Rechtsstreit drehte sich um die praktischen Folgen langer Verwaltungsverfahren. Wenn dem 16-Jährigen natürlich das Recht zusteht, mit seinen Eltern in der EU zusammenleben zu dürfen, was wird dann daraus, wenn die zuständige Behörde fast ein Jahr braucht, um ihn als Flüchtling anzuerkennen, die Eltern drei Monate und einen Tag später die Einreise zur Familienzusammenführung stellen, dieser Antrag abgelehnt wird und beim nachfolgenden Verfahren der Minderjährige volljährig geworden ist?
Der in Österreich angesiedelte Fall wurde noch komplexer, weil die EU keinen unbegrenzten besonderen Schutz für junge Flüchtlinge haben will. Damit nicht auch Volljährige noch einen Anspruch auf Familienzusammenführung haben, sollen die Anträge binnen drei Monaten nach Anerkennung als Flüchtling gestellt werden. Damit schien der Ablehnungsbescheid in diesem Fall zunächst begründet, da die Eltern die Frist um einen Tag verpasst hatten. Der Europäische Gerichtshof schaute sich jedoch den Zweck der Bestimmung genauer an, die darauf hinauslaufe, den besonderen Schutz auf Minderjährige zu beschränken. Deshalb stellte das Gericht nun klar, dass die Dreimonatsfrist jedenfalls dann nicht gilt, wenn bei deren Ablauf der Sohn oder die Tochter noch minderjährig ist. Einreiseanträge zur Familienzusammenführung könnten bei Minderjährigen gestellt werden, „ohne eine Frist einhalten zu müssen“. Und auch die daraus folgende Frage entschieden die europäischen Richter im Sinne der Familie: Wird der anerkannte Flüchtling im Laufe des Verfahrens volljährig, hat das mit seinen Rechten als Minderjähriger nichts zu tun. Sonst könnten die Behörden diese Rechte durch Hinauszögern des Bescheides regelmäßig aushebeln. Ähnlich hatte der Gerichtshof zuvor schon in zwei Fällen volljährig gewordener Flüchtlinge in Deutschland entschieden.
Bei zwei weiteren Aspekten des Falles stellten sich die Richter ebenfalls hinter die Motivation, die Integration von Flüchtlingen durch Familiennachzug zu erleichtern. Da war zum einen der besondere Umstand, dass die Schwester des nach Österreich geflüchteten Jungen zwar bereits volljährig war, wegen ihrer
Erkrankung aber ständig nicht nur auf einen Rollstuhl, sondern bei Ernährung und Körperpflege auch auf die Hilfe ihrer Eltern angewiesen ist. Weil den Eltern das Recht auf Nachzug faktisch verweigert wäre, wenn sie ihre Tochter nicht mitbringen könnten, müssten die Behörden auch sie einreisen lassen.
Und schließlich entschied der Europäische Gerichtshof auch über die Anwendung einer immer wieder auftauchenden Vorgabe für die Voraussetzungen eines Nachzuges. Danach müssen schon anerkannte Flüchtlinge nachweisen, für die Hinzukommenden genügend Wohnraum, Einkommen und Krankenversicherung zu haben, damit diese nicht auf Sozialhilfeleistungen des EU-Mitgliedstaates angewiesen sind. Gilt das auch für Minderjährige? Der Gerichtshof schaute sich Wortlaut, Systematik und Zweck der einschlägigen EU-Bestimmungen an und kam daraufhin zu einem klaren Nein.
Es sei „nämlich nahezu unmöglich, dass ein minderjähriger unbegleiteter Flüchtling für sich selbst und seine Familienangehörigen über einen ortsüblichen Wohnraum, eine Krankenversicherung und ausreichende Einkünfte verfügt“. Auch für die Eltern wäre es „äußerst schwierig“, den Nachweis bereits erbringen zu können, bevor sie zu ihrem Kind gezogen seien. In der Wirklichkeit würde durch ein Bestehen auf diesen Bedingungen Minderjährigen das Recht auf Zusammenführung genommen.