Rundumschlag eines Ex-Schülersprechers
Der ehemalige Landesschülersprecher LennartElias Seimetz entwirft in einem Buch aus Schülersicht seine Ideen für eine Schule, die Zukunft hat.
Es ist ein kurioser Zufall, der am Ende dann aber doch eine Frage aufwirft: Der ehemalige sowie der aktuelle Landesschülersprecher sitzen derzeit im Innenministerium Wand an Wand. Hasan Aljomaa, seit April 2023 im Sprecheramt, absolviert dort sein einjähriges Fachoberschulpraktikum. Ein Büro weiter ist sein Vorgänger Lennart-Elias Seimetz seit einem Jahr in der Presseabteilung von Innenminister Reinhold Jost beschäftigt. Zu Zeiten, als Jost noch Umweltminister war, hatte Seimetz in der dortigen Pressestelle ein Praktikum gemacht – der Kontakt blieb (und die Parteizugehörigkeit stimmte auch). Doch wäre es nicht viel naheliegender, hätte Seimetz in der Pressestelle des Bildungsministeriums angeheuert?
Sich öffentlichkeitswirksam zu Bildungsthemen zu äußern, dazu fühlte er sich immer schon berufen. Drei Jahre lang war er nicht nur Landesschülersprecher, sondern bis vorigen November dazu auch noch Generalreferent der Bundesschülerkonferenz. Die Medientrommel rührte er in dieser Zeit ausdauernd. Im Dezember hat Seimetz, gerade mal 20 Jahre alt, ein überregional viel beachtetes Buch über die Situation an deutschen Schulen veröffentlicht. Seine ebenso differenzierte wie streitbare Aufarbeitung des Schulsystems wird viel besprochen – ob im „Handelsblatt“, im Deutschlandfunk oder einigen ARD-Hörfunksendern. Der Grund liegt auf der Hand: Seimetz beschreibt Schule aus der Perspektive derer, die sie zwar am meisten angeht, die jedoch in der Regel am wenigsten gefragt werden: die Schüler. „Total überfordert, total kaputt, total wichtig“lautet der reichlich plakative Titel des Buches (Dietz Verlag). Worum es geht, beschreibt der Untertitel „Wie Schule sein sollte und was ihr dafür tun müsst“genauer.
Schon im Vorwort schlägt Seimetz einen ausgesprochen selbstbewussten Ton an: „Bei mir erfahren Sie aus erster Hand, wie Schüler*innen heute über Schule denken, was wir von
Schule wollen, was Schule aus unserer Sicht kann und auch, was sie nicht kann.“Bereits auf den ersten Seiten führt er aus, dass Schüler sich im curricular getriebenen Schulsystem unzureichend „auf ein selbstständiges Leben“vorbereitet fühlten. Konkret fehle die Vermittlung praktischer Kenntnisse (Steuern, Mietverträge, Versicherungen) wie auch die sozialer Kernkompetenzen – sprich „Selbstorganisation, Respekt und Grundregeln für ein faires, soziales Miteinander“. Mit anderen Worten mehr Teamfähigkeit und mehr Toleranz. Die Konsequenz daraus heißt für Seimetz „mehr Exkursionen, mehr Experimente (. . ) und mehr Schulpraktika“. Die Rückkehr zu G9, fordert er, sollte im Saarland, das er im Guten wie im Schlechten wiederholt als Referenz nimmt, genau dazu genutzt werden.
Die nächste Breitseite zielt auf das, was er „One-Size-System“nennt: Kreativität und Individualität würden dadurch unterdrückt, dass im Klassenverband alle mehr oder minder pädagogisch über einen Kamm geschoren und „wie Massen- oder Fließbandware“behandelt würden. Ausdrücklich nimmt Seimetz dabei die Lehrerschaft in Schutz. Krank ist aus seiner Sicht vielmehr das System, das zu wenig Optionen und Differenzierungen erlaube.
Manches in diesem Debattenbeitrag eines engagierten Ex-Schülers bleibt naturgemäß vage, teilweise resümiert Seimetz Positionen Dritter – etwa wenn er in einem MiniKapitel zur Bildungsgerechtigkeit die Handlungsempfehlungen des Münchner ifo-Instituts referiert. Seimetz maßt sich bei aller Repräsentanz – er sieht sich selbst ja als Sprachrohr der deutschen Schülerschaft – nicht zu allem eine fundierte eigene Meinung an. Die eigentliche Schwachstelle des Buches ist denn auch eher, dass es geradezu einen bildungspolitischen Rundumschlag versucht und sich hierbei bisweilen übernimmt. Auch ein gremienerprobter Ex-Schüler hat nun mal keine Expertise, um etwa die Ursachen des heutigen Lehrermangels zu erklären. So zutreffend manches ist, was Seimetz hier einbringt, spricht da doch eher ein selbst ernannter Bildungspolitiker aus ihm.
Eine längere Grundschulzeit (etwa nach dem Berlin-Brandenburger Modell), weniger Front- und dafür mehr Gruppenunterricht, eine
stärkere Binnendifferenzierung und eine via „schriftlicher Entwicklungsfeedbacks“individualisiertere Notengebung, Politik als Pflichtfach sowie Medienkompetenz als eigenes Fach ab Klasse 5 und eine besser gemanagte Digitalisierung: Nicht wenige von Seimetz' Anregungen sind schon lange in der bildungspolitischen Pipeline – der 20-Jährige dreht damit auch am Rad, er erfindet es jedoch naturgemäß nicht neu.
Lesenswert ist seine Bestandsaufnahme dennoch. Je konkreter seine Forderungen an einzelne Veränderungen des Schulsystems sind, umso anregender geraten sie. Fünf Beispiele: 1) Der marode Zustand der Schulen konterkariere die behauptete Bedeutung von Bildung als Zukunftsressource schlechthin. Die Lernumgebung sei für den Lernerfolg wichtig, gibt er zu bedenken. 2) Mehr Schulpsychologen, glaubt Seimetz, sorgten für mehr Stressprävention und eine höhere Akzeptanz innerhalb einer immer diverseren Schülerschaft. 3) Ein alle Religionen einschließender Religionsunterricht sei zeitgemäßer als ein rein konfessioneller. 4) Was die SchülerVertretungen (SV) selbst angeht, kritisiert Seimetz die diesen oft nur eingeräumte „Scheinpartizipation“in schulischen Gremien. „Wenn sie
bereits in der Schule merken, dass ihre Meinung egal ist, darf sich niemand über Politikverdrossenheit wundern.“Auch werde das Schulmitbestimmungsgesetz „oft nicht eingehalten“, ohne dass dies weiter auffalle, weil die Schulaufsicht erst aktiv werde, „wenn alle schreien“, berichtet Seimetz aus seiner SV-Zeit. 5) Und was die oft nur auf dem Papier funktionierende Inklusion anbelangt, regt Seimetz etwa „simple Projekttage“an, in denen Schüler die Erfahrungen von Rollstuhlfahrern am eigenen Leib erführen und die Beschäftigung mit deren Hürden Teil des Lehrplanes werde.
Infolge einer Corona-Infektion ist Lennart Seimetz seit zwei Jahren selbst auf einen Rollstuhl angewiesen. Seither laboriert er an einer Auto-Immunerkrankung, die zu einer Muskelschwäche geführt hat, die seine Mobilität stark einschränkt. Eine ganze Weile habe er sein Los nicht öffentlich gemacht, erzählt er. Mittlerweile geht er, auch in seinem Buch, offensiv damit um und spricht über die Einschränkungen und die bürokratischen Schikanen, die man als Behinderter erfahre. Heute sagt er ganz offen: „Es ist schwer, im Saarland mit Rollstuhl einen Job zu finden.“Schön für ihn, dass er erst mal einen gefunden hat.
„Total überfordert, total kaputt, total wichtig“Der Titel des Buches von Lennart-Elias Seimetz