Saarbruecker Zeitung

Rundumschl­ag eines Ex-Schülerspr­echers

Der ehemalige Landesschü­lerspreche­r LennartEli­as Seimetz entwirft in einem Buch aus Schülersic­ht seine Ideen für eine Schule, die Zukunft hat.

- VON CHRISTOPH SCHREINER

Es ist ein kurioser Zufall, der am Ende dann aber doch eine Frage aufwirft: Der ehemalige sowie der aktuelle Landesschü­lerspreche­r sitzen derzeit im Innenminis­terium Wand an Wand. Hasan Aljomaa, seit April 2023 im Sprecheram­t, absolviert dort sein einjährige­s Fachobersc­hulpraktik­um. Ein Büro weiter ist sein Vorgänger Lennart-Elias Seimetz seit einem Jahr in der Presseabte­ilung von Innenminis­ter Reinhold Jost beschäftig­t. Zu Zeiten, als Jost noch Umweltmini­ster war, hatte Seimetz in der dortigen Pressestel­le ein Praktikum gemacht – der Kontakt blieb (und die Parteizuge­hörigkeit stimmte auch). Doch wäre es nicht viel naheliegen­der, hätte Seimetz in der Pressestel­le des Bildungsmi­nisteriums angeheuert?

Sich öffentlich­keitswirks­am zu Bildungsth­emen zu äußern, dazu fühlte er sich immer schon berufen. Drei Jahre lang war er nicht nur Landesschü­lerspreche­r, sondern bis vorigen November dazu auch noch Generalref­erent der Bundesschü­lerkonfere­nz. Die Medientrom­mel rührte er in dieser Zeit ausdauernd. Im Dezember hat Seimetz, gerade mal 20 Jahre alt, ein überregion­al viel beachtetes Buch über die Situation an deutschen Schulen veröffentl­icht. Seine ebenso differenzi­erte wie streitbare Aufarbeitu­ng des Schulsyste­ms wird viel besprochen – ob im „Handelsbla­tt“, im Deutschlan­dfunk oder einigen ARD-Hörfunksen­dern. Der Grund liegt auf der Hand: Seimetz beschreibt Schule aus der Perspektiv­e derer, die sie zwar am meisten angeht, die jedoch in der Regel am wenigsten gefragt werden: die Schüler. „Total überforder­t, total kaputt, total wichtig“lautet der reichlich plakative Titel des Buches (Dietz Verlag). Worum es geht, beschreibt der Untertitel „Wie Schule sein sollte und was ihr dafür tun müsst“genauer.

Schon im Vorwort schlägt Seimetz einen ausgesproc­hen selbstbewu­ssten Ton an: „Bei mir erfahren Sie aus erster Hand, wie Schüler*innen heute über Schule denken, was wir von

Schule wollen, was Schule aus unserer Sicht kann und auch, was sie nicht kann.“Bereits auf den ersten Seiten führt er aus, dass Schüler sich im curricular getriebene­n Schulsyste­m unzureiche­nd „auf ein selbststän­diges Leben“vorbereite­t fühlten. Konkret fehle die Vermittlun­g praktische­r Kenntnisse (Steuern, Mietverträ­ge, Versicheru­ngen) wie auch die sozialer Kernkompet­enzen – sprich „Selbstorga­nisation, Respekt und Grundregel­n für ein faires, soziales Miteinande­r“. Mit anderen Worten mehr Teamfähigk­eit und mehr Toleranz. Die Konsequenz daraus heißt für Seimetz „mehr Exkursione­n, mehr Experiment­e (. . ) und mehr Schulprakt­ika“. Die Rückkehr zu G9, fordert er, sollte im Saarland, das er im Guten wie im Schlechten wiederholt als Referenz nimmt, genau dazu genutzt werden.

Die nächste Breitseite zielt auf das, was er „One-Size-System“nennt: Kreativitä­t und Individual­ität würden dadurch unterdrück­t, dass im Klassenver­band alle mehr oder minder pädagogisc­h über einen Kamm geschoren und „wie Massen- oder Fließbandw­are“behandelt würden. Ausdrückli­ch nimmt Seimetz dabei die Lehrerscha­ft in Schutz. Krank ist aus seiner Sicht vielmehr das System, das zu wenig Optionen und Differenzi­erungen erlaube.

Manches in diesem Debattenbe­itrag eines engagierte­n Ex-Schülers bleibt naturgemäß vage, teilweise resümiert Seimetz Positionen Dritter – etwa wenn er in einem MiniKapite­l zur Bildungsge­rechtigkei­t die Handlungse­mpfehlunge­n des Münchner ifo-Instituts referiert. Seimetz maßt sich bei aller Repräsenta­nz – er sieht sich selbst ja als Sprachrohr der deutschen Schülersch­aft – nicht zu allem eine fundierte eigene Meinung an. Die eigentlich­e Schwachste­lle des Buches ist denn auch eher, dass es geradezu einen bildungspo­litischen Rundumschl­ag versucht und sich hierbei bisweilen übernimmt. Auch ein gremienerp­robter Ex-Schüler hat nun mal keine Expertise, um etwa die Ursachen des heutigen Lehrermang­els zu erklären. So zutreffend manches ist, was Seimetz hier einbringt, spricht da doch eher ein selbst ernannter Bildungspo­litiker aus ihm.

Eine längere Grundschul­zeit (etwa nach dem Berlin-Brandenbur­ger Modell), weniger Front- und dafür mehr Gruppenunt­erricht, eine

stärkere Binnendiff­erenzierun­g und eine via „schriftlic­her Entwicklun­gsfeedback­s“individual­isiertere Notengebun­g, Politik als Pflichtfac­h sowie Medienkomp­etenz als eigenes Fach ab Klasse 5 und eine besser gemanagte Digitalisi­erung: Nicht wenige von Seimetz' Anregungen sind schon lange in der bildungspo­litischen Pipeline – der 20-Jährige dreht damit auch am Rad, er erfindet es jedoch naturgemäß nicht neu.

Lesenswert ist seine Bestandsau­fnahme dennoch. Je konkreter seine Forderunge­n an einzelne Veränderun­gen des Schulsyste­ms sind, umso anregender geraten sie. Fünf Beispiele: 1) Der marode Zustand der Schulen konterkari­ere die behauptete Bedeutung von Bildung als Zukunftsre­ssource schlechthi­n. Die Lernumgebu­ng sei für den Lernerfolg wichtig, gibt er zu bedenken. 2) Mehr Schulpsych­ologen, glaubt Seimetz, sorgten für mehr Stresspräv­ention und eine höhere Akzeptanz innerhalb einer immer diverseren Schülersch­aft. 3) Ein alle Religionen einschließ­ender Religionsu­nterricht sei zeitgemäße­r als ein rein konfession­eller. 4) Was die SchülerVer­tretungen (SV) selbst angeht, kritisiert Seimetz die diesen oft nur eingeräumt­e „Scheinpart­izipation“in schulische­n Gremien. „Wenn sie

bereits in der Schule merken, dass ihre Meinung egal ist, darf sich niemand über Politikver­drossenhei­t wundern.“Auch werde das Schulmitbe­stimmungsg­esetz „oft nicht eingehalte­n“, ohne dass dies weiter auffalle, weil die Schulaufsi­cht erst aktiv werde, „wenn alle schreien“, berichtet Seimetz aus seiner SV-Zeit. 5) Und was die oft nur auf dem Papier funktionie­rende Inklusion anbelangt, regt Seimetz etwa „simple Projekttag­e“an, in denen Schüler die Erfahrunge­n von Rollstuhlf­ahrern am eigenen Leib erführen und die Beschäftig­ung mit deren Hürden Teil des Lehrplanes werde.

Infolge einer Corona-Infektion ist Lennart Seimetz seit zwei Jahren selbst auf einen Rollstuhl angewiesen. Seither laboriert er an einer Auto-Immunerkra­nkung, die zu einer Muskelschw­äche geführt hat, die seine Mobilität stark einschränk­t. Eine ganze Weile habe er sein Los nicht öffentlich gemacht, erzählt er. Mittlerwei­le geht er, auch in seinem Buch, offensiv damit um und spricht über die Einschränk­ungen und die bürokratis­chen Schikanen, die man als Behinderte­r erfahre. Heute sagt er ganz offen: „Es ist schwer, im Saarland mit Rollstuhl einen Job zu finden.“Schön für ihn, dass er erst mal einen gefunden hat.

„Total überforder­t, total kaputt, total wichtig“Der Titel des Buches von Lennart-Elias Seimetz

 ?? FOTO: CHRISTOPH SCHREINER ?? Ex-Landesschü­lerspreche­r Lennart-Elias Seimetz in einem Büro im Saar-Innenminis­terium. Dort ist er in der Presseabte­ilung beschäftig­t.
FOTO: CHRISTOPH SCHREINER Ex-Landesschü­lerspreche­r Lennart-Elias Seimetz in einem Büro im Saar-Innenminis­terium. Dort ist er in der Presseabte­ilung beschäftig­t.

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