Die mühsame Einigkeit der Europäischen Union
Die überraschend schnelle Einigung bei diesem Orbán-Sondergipfel der EU wird Historiker beim Studium der Gipfelbeschlüsse eines Tages ratlos mit der Frage zurücklassen: Warum dafür der ganze Aufwand? Zwei gescheiterte Gipfel-Tage im Dezember, sechs Wochen fieberhafte Verhandlungen zwischen Brüssel und 27 Hauptstädten, aufwendige An- und Abreise von Staats- und Regierungschefs, Delegationen und Sicherheitskräften – und das nur dafür, dass die Überprüfung der blockierten EUMilliarden für Ungarn tatsächlich nach Recht und Gesetz erfolgt, wie stets betont? Und dafür, dass die 50-Milliarden-Hilfe für die Ukraine einmal rein theoretisch überprüft werden kann, wenn die EU-Staaten das einstimmig beschließen?
Das ist inhaltlich nichts und optisch nur in autoritären Systemen als Erfolg verkaufbar. In Wirklichkeit zupften die 26 anderen Gipfelteilnehmer das denkbar kleinste Feigenblatt für Orbán vom GipfelBaum, nur damit er nicht völlig nackt nach Hause reisen musste.
Die Niederlage Orbáns ist in Wirklichkeit kolossal. Vermutlich hätte er mit rechtzeitiger Kompromissbereitschaft im Dezember mehr an Koppelgeschäften erreichen können. Aber er war offenbar in seiner eigenen Wahrnehmung gefangen: Ich will die ganzen 30 Milliarden haben, die Brüssel mir wegen meines Umgangs mit dem Rechtsstaat verweigert. Und wenn ich zehn dafür bekomme, sobald ich danach eine von drei Blockaden lockere, kann ich doch darauf vertrauen, die restlichen 20 zu bekommen, wenn ich auch noch die Vetos vom EU-Haushalt und den Ukraine-Hilfen wegnehme.
Er hat sich damit nicht nur gründlich verzockt, er sah auch die Neigung der EU wachsen, ihn komplett aus dem Spiel zu nehmen.
So erlebte Europa einmal mehr die erstaunliche Geschmeidigkeit Orbáns, mit der er schon so oft auf die Straße der europäischen Geschlossenheit einbog, wenn er erkannte, dass er nicht mehr rausholen konnte. Das jüngste Schauspiel war eine Lehre für die EU: Härte und Standfestigkeit zahlen sich aus, vor allem, wenn die Argumentation auf allen Ebenen durchgehend geschlossen bleibt. Hätte auch nur einer der Teilnehmer in der morgendlichen Sechser-Runde gewackelt, hätte Orbán wohl den Gipfel lang werden lassen.
Der Durchbruch beim Sondergipfel ist jedoch kein Anlass für nachhaltige Erleichterung. In diesen Krisen- und Kriegszeiten mit wachsendem innenpolitischem Einfluss populistischer Strömungen in fast allen EU-Staaten wird sich der nächste Anlass für Streit mit den anderen EU-Staaten leicht finden lassen. Die oft beschworenen gemeinsamen europäischen Werte werden in einem Europa der Vielfalt natürlich je nach Situation und spezifischen regionalen Bedingungen verschieden interpretiert.
Meinungsstreit ist Teil der europäischen demokratischen Kultur. Und von daher fällt eine schnelle Verständigung auf Kompromisse auch dann schwer, wenn es angesichts einer existenziellen Bedrohung dieser Werte durch Russland eigentlich auf eine prinzipiell einige EU ankäme. Umso wichtiger ist der Nachweis, dass es trotzdem, wie bei diesem Sondergipfel, immer wieder gelingt.