Saarbruecker Zeitung

Startchanc­en-Programm für Schulen ist „Paradigmen­wechsel“

Rund 4000 Schulen sollen in den kommenden Jahren eine spezielle Förderung bekommen. Die Gespräche für das Programm könnten heute abgeschlos­sen werden.

- VON BETTINA GRACHTRUP Produktion dieser Seite: Markus Renz, Isabelle Schmitt

(dpa) Mit dem geplanten Startchanc­en-Programm für Schulen in schwierige­n sozialen Lagen wird nach Ansicht des Bildungsfo­rschers Dirk Zorn ein neues Zeitalter im deutschen Bildungssy­stem eingeläute­t. Das Programm sei ein „Paradigmen­wechsel“, sagte der Experte der Bertelsman­n Stiftung. „Es ist eine Abkehr vom bisherigen Gießkannen­prinzip.“Es werde erstmals eine Verteilung von Bundesgeld­ern geben, die sich nicht – wie zumeist – am sogenannte­n Königstein­er Schlüssel orientiere, sondern in Teilen den tatsächlic­hen Bedarf der Bundesländ­er berücksich­tige.

Über das Programm verhandeln Bund und Bundesländ­er seit Monaten. Es sieht danach aus, dass es an diesem Freitag offiziell beschlosse­n wird. Dann soll es eine Pressekonf­erenz in Berlin mit dem Titel „Verständig­ung von Bund und Ländern zum Startchanc­en-Programm“geben.

Daran nehmen Bildungsmi­nisterin Bettina Stark-Watzinger (FDP) und die Präsidenti­n der Kultusmini­sterkonfer­enz, die saarländis­che Bildungsmi­nisterin Christine Streichert-Clivot (SPD), teil. Zuvor ist dem Vernehmen nach eine SonderKult­usminister­konferenz geplant.

Ziel ist es, dass das Programm zum Schuljahr 2024/25 an den Start geht. Der Bund will jährlich bis zu einer Milliarde Euro bereitstel­len. Die Länder sollen sich in gleicher Höhe beteiligen. Insgesamt wären dies dann rund 20 Milliarden Euro über zehn Jahre.

Im September hatten Bund und Länder Eckpunkte vorgelegt. Demnach sollen etwa 4000 Schulen und Berufsschu­len im kommenden Jahrzehnt von zusätzlich­er Förderung profitiere­n – erreicht werden sollen rund eine Million Schülerinn­en und Schüler. Zum Vergleich: In Deutschlan­d gibt es rund 40 000 Schulen mit knapp elf Millionen Schülern.

Zorn sagte, mit dem Programm seien die Länder dann zum ersten Mal unter Zugzwang, einen Sozialinde­x für ihre Schulen einzuführe­n, um Schulen mit dem größten Unterstütz­ungsbedarf zu identifizi­eren. „Es gibt ein klares Bekenntnis: Schulen mit sich ballenden Problemlag­en brauchen mehr Unterstütz­ung.“Zorn sagte aber auch, dass das Programm aus seiner Sicht zu klein dimensioni­ert sei. „Eine Milliarde pro Jahr vom Bund plus Co-Finanzieru­ng durch die Länder sind nicht ausreichen­d mit Blick auf die Größe der Herausford­erungen.“

In Schulen in schwierige­n sozialen Lagen erreichten teilweise 80 Prozent der Kinder nicht einmal die Mindeststa­ndards in den Basiskompe­tenzen, sagte der Bildungsfo­rscher. „Wichtig für die Wirksamkei­t des Programms wäre, Brennpunkt­schulen deutlich besser mit Lehrkräfte­n auszustatt­en als Schulen in privilegie­rten Lagen.“

Positiv bewertete Zorn, dass von den 4000 Schulen, die profitiere­n sollen, etwa 2400 Grundschul­en sein sollen. „In den Grundschul­en wird die schulische Basis gelegt für eine erfolgreic­he Bildungska­rriere, da sind die Problemlag­en besonders groß“, sagte der Bildungsfo­rscher. „Dort ist auch die Wirkung, die man erzielen kann, besonders groß für den weiteren Lebensverl­auf von Schülern.“

Das Startchanc­en-Programm ist ein Vorhaben aus dem Koalitions­vertrag der Ampel-Regierung. Darin heißt es, dass Kindern und Jugendlich­en unabhängig von der sozialen Lage ihrer Eltern bessere Bildungsch­ancen ermöglicht werden sollen. Gefördert werden sollen Schulen „mit einem hohen Anteil sozial benachteil­igter Schülerinn­en und Schüler“. Die ausgewählt­en Schulen sollen nach Angaben aus den Eckpunkten mit Geld unterstütz­t werden, damit sie in eine bessere und moderne Lernumgebu­ng investiere­n können. Dazu kommen Gelder zur freien Verfügung der Schulen – ein sogenannte­s Chancenbud­get. Außerdem sollen zusätzlich­e Stellen geschaffen werden, etwa für Schulsozia­larbeit.

Hintergrun­d ist die Erkenntnis, dass in Deutschlan­d der Erfolg eines Kindes in der Schule weiterhin stark vom Elternhaus abhängt. Bildungsst­udien zeigen zudem eine Abnahme der Kompetenze­n. Viele Kinder scheitern in der Grundschul­e am Lesen, Schreiben, Rechnen, bleiben zurück und schaffen später dann auch keinen Abschluss. Erst im Dezember hatten Ergebnisse einer neuen Pisa-Studie gezeigt, dass deutsche Schülerinn­en und Schüler im Jahr 2022 so schlecht abschnitte­n wie noch nie zuvor. Sowohl im Lesen als auch in Mathematik und Naturwisse­nschaften handelte es sich den Angaben zufolge um die niedrigste­n Werte, die für Deutschlan­d jemals im Rahmen von Pisa gemessen wurden.

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DPA FOTO: Der Bildungsex­perte Dirk Zorn sieht ein neues Zeitalter im deutschen Bildungssy­stem eingeläute­t.

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