Nach Geduldsspiel ist O’Neill Chefin im Schloss
Die protestantisch-unionistische DUP hat zugestimmt, in das nordirische Kabinett zurückzukehren. Neue Regierungschefin ist Michelle O’Neill von der Partei Sinn Féin.
BELFAST Als Michelle O'Neill diese Woche vor die Kameras trat, wirkte sie erleichtert und motiviert. „Ich denke, es ist ein Tag des Optimismus und der Hoffnung“, sagte sie auf Stormont Castle, dem Regierungssitz Nordirlands, gewohnt selbstbewusst.
Eigentlich sollte die 47-Jährige ihr Amt als Regierungschefin im Mai 2022 antreten. Schließlich hatte die katholisch-nationalistische Partei, die lange als verlängerter Arm der IRA galt und für eine Wiedervereinigung Nordirlands mit Irland eintritt, bei den Regionalwahlen einen historischen Sieg errungen und sich erstmals seit ihrer Gründung gegen die erzkonservative protestantischunionistische Democratic Unionist Party (DUP) durchgesetzt.
Wegen der Blockade der Unionisten des Nordirland-Protokolls, das eine Zollgrenze zwischen dem nördlichen Landesteil und Großbritannien vorsah, waren die vergangenen Monate für O`Neill jedoch vor allem ein Geduldsspiel, das sie immer wieder als „frustrierend“bezeichnete.
Da das Karfreitagsabkommen eine Einheitsregierung der größten Parteien beider Konfessionen in Nordirland vorsieht, herrschte politischer Stillstand. Nachdem die DUP unter Parteichef Jeffrey Donaldson diese Woche ihre Rückkehr ins nordirische Kabinett angekündigt hat, soll die Regionalregierung an diesem Samstag erstmals zusammentreten – ein Ereignis, das selbst nüchterne politische Beobachter als „historisch“bezeichnen. Die Liste der Aufgaben, die O'Neill mit den Unionisten bewältigen muss, ist lang. Die Herausforderungen in der Region konnten in den vergangenen Monaten nur verwaltet, aber keine neuen Gesetze erlassen werden. Nun kann sich die 47-Jährige an die Arbeit machen.
Als O'Neill Martin McGuinness 2020 an der Parteispitze in Nordirland ablöste, wurde dies als Bruch mit der alten IRA-Garde der republikanischen Bewegung interpretiert. Sie gilt als moderne Politikerin der Generation nach dem Waffenstillstand. O'Neill ist das sympathische, Kritiker würden sagen, das bereinigte Gesicht von Sinn Féin. Obwohl ihr Vater und ihr Onkel Mitglieder der Irish Republican Army (IRA) waren, schlägt sie eine Brücke zwischen den Generationen. Und ihre Lebensgeschichte weckt Mitgefühl. Sie wurde als Jugendliche schwanger und litt unter der Verachtung der Gesellschaft. Nach der Geburt ihres Kindes legte sie trotz gesundheitlicher Probleme schnell ihren Bildungsabschluss ab. Heute lebt sie in dem kleinen Ort Clonoe im nördlichen Landesteil und hat zwei erwachsene Kinder.
Die Politikerin trat nach dem Karfreitagsabkommen 1998 im Alter von 21 Jahren der Partei Sinn Féin bei und arbeitete sich hoch. Bei den Parlamentswahlen 2007 wurde sie in die Regionalregierung gewählt. 2010 wurde sie die erste Bürgermeisterin des nordirischen Wahlkreises Dungannon und South Tyrone, dann Ministerin für Landwirtschaft und 2016 Gesundheitsministerin und im Januar 2020 stellvertretende Regierungschefin Nordirlands. Bei den Parlamentswahlen 2022 gewann die Partei die meisten Sitze und wurde zur größten politischen Partei in der nordirischen Regierung.
Neben vielen innenpolitischen Herausforderungen steht O'Neill vor allem vor einem Problem: Sie muss sich im Sinne der Partei für die Wiedervereinigung mit Irland einsetzen, Sinn Féin strebt ein Referendum innerhalb der nächsten zehn Jahre an, ohne dabei allzu radikal auf diejenigen Nordiren zu wirken, die Teil des Vereinigten Königreichs bleiben wollen. In einer Erklärung anlässlich der Krönung von König Charles III. im vergangenen Jahr betonte sie: „Ich bin entschlossen, eine Regierungschefin für alle zu sein, die gesamte Gemeinschaft zu repräsentieren und Frieden und Versöhnung durch respektvolles und verantwortungsvolles Engagement voranzutreiben.“