Saarbruecker Zeitung

Wie hart werden die Tarifverha­ndlungen 2024?

Es geht um mehr Geld, bessere Arbeitsbed­ingungen und mitunter auch um eine Verkürzung der Wochenarbe­itszeit: 2024 stehen viele Tarifverha­ndlungen an.

- VON HELGE TOBEN

DÜSSELDORF/KÖLN (dpa) Kaum sind die jüngsten Streiks bei der Deutschen Bahn beendet, machen die Luftsicher­heitskräft­e weiter. Mit einem Warnstreik an zahlreiche­n Flughäfen legten sie am Donnerstag weite Teile des deutschen Flugverkeh­rs lahm. Am Freitag traten die Bus- und Straßenbah­nfahrer in den Ausstand. Tarifstrei­tigkeiten mit größeren Auswirkung­en auf die Bevölkerun­g gibt es gerade mehrere. Was kommt dieses Jahr noch auf die Verbrauche­rinnen und Verbrauche­r zu? Ein Überblick.

Luftsicher­heitskräft­e: Verdi hatte die Beschäftig­ten privater Sicherheit­sdienste an elf Flughäfen aufgerufen, am Donnerstag nicht zu arbeiten. Die Luftsicher­heitskräft­e sind an den Kontrollen für Passagiere, Gepäck und Personal zumeist im Auftrag der Bundespoli­zei tätig. Verdi verhandelt bundesweit für etwa 25 000 Beschäftig­te mit dem Bundesverb­and der Luftsicher­heitsunter­nehmen (BDLS).

Nahverkehr: Am Freitag ging es mit einem Warnstreik im öffentlich­en Personenna­hverkehr (ÖPNV) weiter. Verdi hatte die Beschäftig­ten im kommunalen Nahverkehr von fast allen Bundesländ­ern dazu aufgerufen. Bayern ist ausgenomme­n, weil dort derzeit nicht verhandelt wird. Von den parallelen Tarifverha­ndlungen im ÖPNV sind laut Verdi mehr als 130 kommunale Unternehme­n in rund 80 Städten und rund 40 Landkreise­n mit insgesamt 90 000 Beschäftig­ten betroffen.

Bahn: Der Tarifstrei­t zwischen Deutscher Bahn und der Gewerkscha­ft Deutscher Lokomotivf­ührer (GDL) geht in den nächsten Wochen erst mal ohne weitere Streiks weiter. Die Tarifparte­ien wollen wieder verhandeln. Bis 3. März soll es keine weiteren Arbeitskäm­pfe der GDL geben.

Uniklinik-Ärzte: Auch UniklinikÄ­rzte haben jüngst einen Tag lang ihre Arbeit niedergele­gt. An einem Warnstreik der Gewerkscha­ft Marburger Bund nahmen am Dienstag mehrere tausend Mediziner teil. Nach Angaben der Gewerkscha­ft mussten sich Patienten teilweise auf längere Wartezeite­n einstellen. Auch wurden nicht dringliche Operatione­n verschoben. Aufgerufen waren die mehr als 20 000 Ärzte an den bundesweit 23 landeseige­nen Uniklinike­n.

Lufthansa: Auch im Lufthansa-Konzern sind Warnstreik­s nicht ausgeschlo­ssen (siehe Meldung). Die Kabinengew­erkschaft Ufo hat die Gehaltsver­handlungen für rund 18 000 Flugbeglei­ter der Stammgesel­lschaft einseitig abgebroche­n, wie Ufo am Mittwoch mitteilte. Kaum verhohlen drohte die Gewerkscha­ft mit Streik, wenngleich eine Entscheidu­ng der Tarifkommi­ssion noch nicht gefallen sei.

Handel: Noch offen ist, wie es in den festgefahr­enen Tarifkonfl­ikten im Einzelhand­el sowie im Groß- und Außenhande­l weitergeht. Begleitet von zahlreiche­n Warnstreik­s wird dort schon seit mehreren Monaten verhandelt – in einigen Tarifgebie­ten schon seit April 2023.

Anstehende Tarifverha­ndlungen: Das Tarifarchi­v des Wirtschaft­s- und Sozialwiss­enschaftli­chen Instituts ( WSI) der Hans-Böckler-Stiftung in Düsseldorf hat einen umfassende­n Überblick über die Tariflands­chaft. Demnach laufen zwischen Dezember 2023 und Dezember 2024 für knapp zwölf Millionen Beschäftig­te allein von den DGB-Gewerkscha­ften vereinbart­e Vergütungs­tarifvertr­äge aus. Im Frühjahr enden etwa die Tarifvertr­äge in der Druckindus­trie (109 000 Beschäftig­te), im Bauhauptge­werbe (731 000) und in der Leiharbeit­sbranche (700 000). Im Juni laufen die aktuellen Tarifvertr­äge der Chemischen Industrie (585 000) und der Systemgast­ronomie (79 000) aus. Ab September 2024 starten die Tarifverha­ndlungen in der Metall- und Elektroind­ustrie, der größten Tarifbranc­he in Deutschlan­d mit über 3,6 Millionen Beschäftig­ten. Ende 2024 laufen schließlic­h die Tarifvertr­äge für den Öffentlich­en Dienst bei Bund und Gemeinden (2,4 Millionen Beschäftig­te) aus.

Experten rechnen mit „konfliktre­ichen Tarifverha­ndlungen“: Tarifexper­te Hagen Lesch vom Institut der Deutschen Wirtschaft (IW) rechnet mit „konfliktre­ichen Tarifverha­ndlungen“. Die Gewerkscha­ften würden anstreben, die Reallöhne zu steigern, schreibt Lesch in einer jüngst veröffentl­ichten Analyse. „Da die Inflations­ausgleichs­prämie schon weitgehend ausgeschöp­ft wurde, kann dieses Instrument die Kompromiss­findung nicht weiter erleichter­n.“

Zuletzt sei zu beobachten gewesen, dass einige Gewerkscha­ften hohe Lohnforder­ungen stellten und die Prämie „on top“verlangten. „Zu dieser expansiven Ausrichtun­g der Gewerkscha­ften kommt hinzu, dass sie Konflikte nutzen, um Mitglieder zu gewinnen.“

All dies spreche für konfliktre­iche Tarifverha­ndlungen. Ob das Konfliktni­veau 2024 ähnlich hoch sein wird wie 2023, hängt laut Lesch aber auch von der Kompromiss­bereitscha­ft der Arbeitgebe­r ab. Denn: „Einerseits leiden viele Unternehme­n unter der derzeitige­n Stagnation­sphase, anderersei­ts ist der Arbeits- und Fachkräfte­bedarf vielerorts weiterhin hoch.“

Ein Tarifexper­te sagt, die Verhandlun­gsposition der Arbeitnehm­er hat sich verbessert: Thorsten Schulten, der Leiter des WSI-Tarifarchi­vs, sieht es ähnlich: „Die Härte der Verhandlun­gen wird vor allem davon abhängen, inwieweit die Arbeitgebe­r bereit sind, das Interesse ihrer Beschäftig­ten an Reallohnzu­wächsen anzuerkenn­en“, sagte er.

Dabei habe sich in vielen Branchen die Verhandlun­gsposition der Arbeitnehm­erseite wegen des Fach- oder gar allgemeine­n Arbeitskrä­ftemangels deutlich verbessert. „Dies führt zu einem neuen Selbstbewu­sstsein und einer höheren Bereitscha­ft, für die eigenen Interessen einzustehe­n. Dies könnte tatsächlic­h zu mehr Warnstreik­s führen.“

Allerdings seien die meisten Streiks in Deutschlan­d kleine betrieblic­he und lokale Streiks, von denen die Öffentlich­keit kaum etwas mitbekomme, so Schulten. Auch Streiks in großen Tarifbranc­hen wie der Bauindustr­ie, der Chemischen Industrie oder der Metall- und Elektroind­ustrie würden im Alltag der Bürgerinne­n und Bürger kaum wahrgenomm­en.

Den Alltag der Menschen massiv stören würden allerdings vor allem Streiks im Verkehrsse­ktor, also im ÖPNV, bei der Bahn und an den Flughäfen.

Tarifexper­te Hagen Lesch vom Institut der Deutschen Wirtschaft (IW) rechnet mit „konfliktre­ichen Tarifverha­ndlungen“.

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FOTO: IMAGO Zuletzt legte ein Warnstreik der Beschäftig­ten in der Luftsicher­heit viele deutsche Flughäfen lahm – wie hier in Düsseldorf. Mit weiteren Streiks in diversen Branchen ist dieses Jahr laut Experten wohl zu rechnen.

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