Epigenetik oder: Drehen an den DNA-Schaltern
Können wir uns bald verjüngen, indem die für Alterungsprozesse in uns zuständigen Gen-Schalter umgekehrt gesetzt werden? Werden Traumata oder Umwelteinflüsse weitervererbt? Am Saarbrücker Lehrstuhl für Epigenetik werden solche und ähnliche Fragen untersucht. Wie sehen die Antworten aus?
SAARBRÜCKEN Als im Februar 2001 das menschliche Genom nach jahrelanger Vorarbeit als entschlüsselt galt (tatsächlich ist es das in Gänze erst seit Mai 2021), da dachten viele, dass damit bald verstanden sei, wie Krankheiten entstehen. „Das Genom sagt uns jedoch nicht alles, man muss die epigenetische Ebene mitdenken“, sagt die Saarbrücker Epigenetik-Professorin Julia Schulze-Hentrich.
Was aber ist überhaupt Epigenetik? Grob gesagt, beschreibt die Epigenetik Prozesse in unserem Körper, die unser Genom interpretieren und es verändern. Es gibt zwar ein festes Programm, nach dem die Differenzierung jeder einzelnen Zelle gesteuert wird, teilweise kann dies aber auch durch äußere Faktoren beeinflusst werden. Was wir aus unserem Leben machen und das Leben mit uns, folgt nicht ausschließlich dem Schaltplan unseres Genoms.
Eineiige Zwillinge verdeutlichen dies: Obwohl ihr Chromosomensatz identisch ist, können sie sich doch aufgrund divergierender Lebensweisen, Interessen oder auch Umwelteinflüssen unterschiedlich entwickeln. Studien belegen, dass ihre Epigenome (also die chemischen Veränderungen ihrer DNA) im Alter variieren. Das Grundaxiom der Epigenetik lautet also, wenn man so will: Die Gene selbst werden zwar nicht verändert, wohl aber ihre Lesbarkeit.
Was ist damit gemeint? SchulzeHentrich illustriert es mit dem Bild des Lichtschalters: Alle bis zu 300 unterschiedlichen Zelltypen enthalten unsere komplette DNA. Kurzum: Jede Einzelne enthält 30 000 Gene. Mal werden daraus Blut-, mal Nerven-, mal Muskelzellen et cetera, holt die Epigenetikerin aus. Was den Unterschied macht, ist, ob einzelne GenAbschnitte „an- oder abgeschaltet“seien. Auf diese Weise werden GenInformationen entweder blockiert oder zugänglich, wobei der Großteil der Gene inaktiv ist. Klar: Eine Leberzelle kann nicht gleichzeitig Gehirnzelle sein. Die Muster dafür sind also abgeschaltet. Noch dazu können die aktiven Genabschnitte (bzw. deren Eiweißhüllen) hoch- oder heruntergedimmt sein, sprich stärker oder schwächer wirken. „Die Verpackungsstruktur der DNA wird entweder gelockert oder gefestigt.“Epigenetische Markierungen sind wie Türöffner und entscheiden mit darüber, welche Bereiche abgelesen werden: Sie modifizieren unsere DNA. Sport etwa, so Schulze-Hentrich, könnte bestimmte Schalter umlegen.
Die Gretchenfrage dahinter drängt sich förmlich auf: Werden solche Veränderungen auch an unsere Kinder weitervererbt? Im Normalfall nicht, glaubt Julia Schulze-Henrichs Saarbrücker Kollege Jörn Walter, eine der Koryphäen der deutschen Epigenetik. Seit 20 Jahren forscht Prof. Walter, der im Herbst emeritiert wird, unter anderem zu dieser Frage. Normalerweise werde beim Weitervererben „alles wieder weitestgehend auf Null gesetzt“, also in den Ursprungszustand vor den jeweiligen biochemischen Modifikationen. „Möglicherweise“– Walter ist da sehr vorsichtig – blieben bestimmte Gene „auf eine bestimmte Art angeschaltet“, weil bestimmte Löschungen nicht erfolgen. Schulze-Hentrich akzentuiert es ein wenig anders: „Hier ist noch weitere Forschung notwendig. Einige Veränderungen könnten sich fortsetzen.“
Lautet die Antwort also doch Jein? „Das Problem ist, dass wir von Korrelationen zu Kausalitäten kommen müssen“, beschreibt Julia SchulzeHentrich das gegenwärtige Dilemma der Epigenetik. Es gebe zwar Hinweise darauf, dass womöglich bestimmte Sozialisationserfahrungen oder Umwelteinflüsse in Form von Gen-Markierungen an die nächste Generation weitergegeben werden. Bislang fehlten aber wirklich gesicherte Erkenntnisse. Denn woher wissen wir, welche Veränderungen in unserem Leben genetisch vorgegeben sind und welche sozialisationsbedingt sind? Hinzu kommt: Tagtäglich prasselt derart viel auf uns ein, dass kaum auszumachen ist, welche Einflüsse tatsächlich was bedingen.
Daher zieht die Forschung gerne Ausnahmesituationen heran: In einer Studie zum „dutch hunger winter“1944/45 untersuchte man etwa, wie sich die Kinder von Niederländerinnen später entwickelten, die während ihrer Schwangerschaft Hunger litten. Viele waren im Erwachsenenalter fettleibig – möglicherweise, weil ihre Stoffwechselenzyme epigenetisch so gesetzt wurden, dass infolge der embryonalen Extremerfahrung zellulär mehr Fettspeicher angelegt wurden. Aber ist das schon ein Beweis für die Vererbbarkeit von Umwelteinflüssen?
Um in diesem äußerst komplexen, letztlich in eine Art Henne-Ei-Problematik mündenden Erkenntnisprozess weiterzukommen, sind nach Überzeugung der Saarbrücker Epigenetikerin daher Tiermodelle und sehr große Datenmengen entscheidend, weil standardisierte Untersuchungen für mehr Konstanz und damit Eindeutigkeit sorgen könnten. Ein teures und zeitintensives Unterfangen, das kontinuierliches Einwerben von Drittmitteln, viele Experimente und deren Auswertung sowie Veröffentlichungen bedeutet. Produzieren, publizieren, finanzieren: ein ständiger, arbeitsintensiver Kreislauf. „Nicht selten muss man mehrere Anträge schreiben, damit einer durchgeht.“Hilfreich sind oft Kollaborationen mit anderen Forschungspartnern an der eigenen oder anderen Universitäten. In Saarbrücken, so Schulze-Hentrich, seien solche Expertise-Bündnisse glücklicherweise sehr ausgeprägt.
Ihr eigener Forschungsschwerpunkt sind neurodegenerative Erkrankungen wie etwa Huntington und Parkinson. Obwohl bei Parkinson mittlerweile 100 damit in Zusammenhang stehende Gene identifiziert sind, seien damit nur gut zehn Prozent der Erkrankungen zu erklären. In den anderen Fällen scheint ein komplexes Wechselspiel aus Umwelteinflüssen, Alterungsprozessen und genetischen Prädispositionen entscheidend zu sein. Zugleich wisse man, dass Sport die Wahrscheinlichkeit einer Erkrankung um bis zu 40 Prozent verringern könne. Die Epigenetik-Professorin folgert daher: „Es gibt zwar klare genetische Erkrankungen, aber für ,multifaktorielle Erkrankungen` gibt es einen gewissen Spielraum. Wir sind nicht Opfer unserer Genetik. Das ist die positive Nachricht.“
Was heißt das für den alten Traum vom ewigen Jungbrunnen? Lassen sich Alterungsprozesse womöglich epigenetisch nicht nur aufhalten, sondern sogar eine Verjüngung erreichen? Lässt sich „die epigenetische Uhr“, von der Schulze-Hentrich spricht, zurückdrehen? Tatsächlich wird seit einigen Jahren mit dem Ziel einer Reprogrammierung älterer Zellen an einzelnen Enzymen „herumgeschraubt“. Für Aufsehen sorgte vor einigen Jahren die US-Studie Triim, in deren Verlauf bei einigen Studienteilnehmern nach der zwölfmonatigen Gabe eines Cocktails aus Wachstumshormonen, einer sexualhormonähnlichen Substanz und eines Diabetesmittels nachweislich eine Verjüngung eintrat. Ihre „epigenetische Signatur“( Jörn Walter) verjüngte sich um 7,5 Jahre. Die Ergebnisse der Studie bleiben allerdings bis heute umstritten.
Was bedeutet das nun alles? Dass die Epigenetik und damit die Art, wie wir leben, unsere genetischen Prägungen verändern kann. Weshalb man inzwischen erkannt hat, dass sie immer wichtiger wird, um die Genetik zu erklären. „Vor 20 Jahren dachten noch viele, Epigenetik sei ein etwas esoterischer Zweig der Genetik“, erinnert sich Jörn Walter. Heute sind sich nicht nur die beiden Saarbrücker Epigenetiker einig, dass wir durch unsere Lebensweise an den Schaltern drehen können.
Kürzlich haben beide gemeinsam eine Epigenetik-Vorlesung für Psychologiestudierende gehalten. Julia Schulze-Hentrich betonte dabei, dass es kritische Zeitfenster gebe, in denen „epigenetische Schalter“gesetzt oder nicht gesetzt würden. Im Positiven wie im Negativen. Eine Studie aus Schweden, erzählte sie den Studenten, stellte etwa fest, dass eine Überernährung von pubertierenden Jungs nicht nur deren Leben verkürze, sondern auch das ihrer Nachkommen. Welche epigenetischen Schalter hier eine Rolle spielen, bleibt zu erforschen.
Wichtig sei es daher, glaubt Schulze-Hentrich, auf Basis sehr viel größerer Datenmengen entsprechende epigenetische Muster „auszulesen“. Die Methoden dazu werden ständig verbessert und sind im Arbeitskreis der Epigenetik in Saarbrücken etabliert. Man arbeitet dabei im engen Verbund mit anderen hochspezialisierten Sequenzierungszentren in Deutschland. In Zukunft wird es darum gehen, Epigenomdaten umfassender für die Wissenschaft zu nutzen. Dazu muss man mit Daten verantwortlich umgehen und diese stets sicher und geschützt aufbewahren.
Dies tangiert jedoch auch ethische Fragen. Was etwa, wenn Krankenkassen eines Tages anhand ausgelesener Genome ihrer damit zu „gläsernen Menschen“gewordenen Versicherten und den dabei gefundenen Hinweisen auf bestehende oder künftige Erkrankungen die Höhe ihrer Police festlegen? Orwell lässt grüßen.