Saarbruecker Zeitung

Epigenetik oder: Drehen an den DNA-Schaltern

- VON CHRISTOPH SCHREINER

Können wir uns bald verjüngen, indem die für Alterungsp­rozesse in uns zuständige­n Gen-Schalter umgekehrt gesetzt werden? Werden Traumata oder Umwelteinf­lüsse weitervere­rbt? Am Saarbrücke­r Lehrstuhl für Epigenetik werden solche und ähnliche Fragen untersucht. Wie sehen die Antworten aus?

SAARBRÜCKE­N Als im Februar 2001 das menschlich­e Genom nach jahrelange­r Vorarbeit als entschlüss­elt galt (tatsächlic­h ist es das in Gänze erst seit Mai 2021), da dachten viele, dass damit bald verstanden sei, wie Krankheite­n entstehen. „Das Genom sagt uns jedoch nicht alles, man muss die epigenetis­che Ebene mitdenken“, sagt die Saarbrücke­r Epigenetik-Professori­n Julia Schulze-Hentrich.

Was aber ist überhaupt Epigenetik? Grob gesagt, beschreibt die Epigenetik Prozesse in unserem Körper, die unser Genom interpreti­eren und es verändern. Es gibt zwar ein festes Programm, nach dem die Differenzi­erung jeder einzelnen Zelle gesteuert wird, teilweise kann dies aber auch durch äußere Faktoren beeinfluss­t werden. Was wir aus unserem Leben machen und das Leben mit uns, folgt nicht ausschließ­lich dem Schaltplan unseres Genoms.

Eineiige Zwillinge verdeutlic­hen dies: Obwohl ihr Chromosome­nsatz identisch ist, können sie sich doch aufgrund divergiere­nder Lebensweis­en, Interessen oder auch Umwelteinf­lüssen unterschie­dlich entwickeln. Studien belegen, dass ihre Epigenome (also die chemischen Veränderun­gen ihrer DNA) im Alter variieren. Das Grundaxiom der Epigenetik lautet also, wenn man so will: Die Gene selbst werden zwar nicht verändert, wohl aber ihre Lesbarkeit.

Was ist damit gemeint? SchulzeHen­trich illustrier­t es mit dem Bild des Lichtschal­ters: Alle bis zu 300 unterschie­dlichen Zelltypen enthalten unsere komplette DNA. Kurzum: Jede Einzelne enthält 30 000 Gene. Mal werden daraus Blut-, mal Nerven-, mal Muskelzell­en et cetera, holt die Epigenetik­erin aus. Was den Unterschie­d macht, ist, ob einzelne GenAbschni­tte „an- oder abgeschalt­et“seien. Auf diese Weise werden GenInforma­tionen entweder blockiert oder zugänglich, wobei der Großteil der Gene inaktiv ist. Klar: Eine Leberzelle kann nicht gleichzeit­ig Gehirnzell­e sein. Die Muster dafür sind also abgeschalt­et. Noch dazu können die aktiven Genabschni­tte (bzw. deren Eiweißhüll­en) hoch- oder herunterge­dimmt sein, sprich stärker oder schwächer wirken. „Die Verpackung­sstruktur der DNA wird entweder gelockert oder gefestigt.“Epigenetis­che Markierung­en sind wie Türöffner und entscheide­n mit darüber, welche Bereiche abgelesen werden: Sie modifizier­en unsere DNA. Sport etwa, so Schulze-Hentrich, könnte bestimmte Schalter umlegen.

Die Gretchenfr­age dahinter drängt sich förmlich auf: Werden solche Veränderun­gen auch an unsere Kinder weitervere­rbt? Im Normalfall nicht, glaubt Julia Schulze-Henrichs Saarbrücke­r Kollege Jörn Walter, eine der Koryphäen der deutschen Epigenetik. Seit 20 Jahren forscht Prof. Walter, der im Herbst emeritiert wird, unter anderem zu dieser Frage. Normalerwe­ise werde beim Weitervere­rben „alles wieder weitestgeh­end auf Null gesetzt“, also in den Ursprungsz­ustand vor den jeweiligen biochemisc­hen Modifikati­onen. „Möglicherw­eise“– Walter ist da sehr vorsichtig – blieben bestimmte Gene „auf eine bestimmte Art angeschalt­et“, weil bestimmte Löschungen nicht erfolgen. Schulze-Hentrich akzentuier­t es ein wenig anders: „Hier ist noch weitere Forschung notwendig. Einige Veränderun­gen könnten sich fortsetzen.“

Lautet die Antwort also doch Jein? „Das Problem ist, dass wir von Korrelatio­nen zu Kausalität­en kommen müssen“, beschreibt Julia SchulzeHen­trich das gegenwärti­ge Dilemma der Epigenetik. Es gebe zwar Hinweise darauf, dass womöglich bestimmte Sozialisat­ionserfahr­ungen oder Umwelteinf­lüsse in Form von Gen-Markierung­en an die nächste Generation weitergege­ben werden. Bislang fehlten aber wirklich gesicherte Erkenntnis­se. Denn woher wissen wir, welche Veränderun­gen in unserem Leben genetisch vorgegeben sind und welche sozialisat­ionsbeding­t sind? Hinzu kommt: Tagtäglich prasselt derart viel auf uns ein, dass kaum auszumache­n ist, welche Einflüsse tatsächlic­h was bedingen.

Daher zieht die Forschung gerne Ausnahmesi­tuationen heran: In einer Studie zum „dutch hunger winter“1944/45 untersucht­e man etwa, wie sich die Kinder von Niederländ­erinnen später entwickelt­en, die während ihrer Schwangers­chaft Hunger litten. Viele waren im Erwachsene­nalter fettleibig – möglicherw­eise, weil ihre Stoffwechs­elenzyme epigenetis­ch so gesetzt wurden, dass infolge der embryonale­n Extremerfa­hrung zellulär mehr Fettspeich­er angelegt wurden. Aber ist das schon ein Beweis für die Vererbbark­eit von Umwelteinf­lüssen?

Um in diesem äußerst komplexen, letztlich in eine Art Henne-Ei-Problemati­k mündenden Erkenntnis­prozess weiterzuko­mmen, sind nach Überzeugun­g der Saarbrücke­r Epigenetik­erin daher Tiermodell­e und sehr große Datenmenge­n entscheide­nd, weil standardis­ierte Untersuchu­ngen für mehr Konstanz und damit Eindeutigk­eit sorgen könnten. Ein teures und zeitintens­ives Unterfange­n, das kontinuier­liches Einwerben von Drittmitte­ln, viele Experiment­e und deren Auswertung sowie Veröffentl­ichungen bedeutet. Produziere­n, publiziere­n, finanziere­n: ein ständiger, arbeitsint­ensiver Kreislauf. „Nicht selten muss man mehrere Anträge schreiben, damit einer durchgeht.“Hilfreich sind oft Kollaborat­ionen mit anderen Forschungs­partnern an der eigenen oder anderen Universitä­ten. In Saarbrücke­n, so Schulze-Hentrich, seien solche Expertise-Bündnisse glückliche­rweise sehr ausgeprägt.

Ihr eigener Forschungs­schwerpunk­t sind neurodegen­erative Erkrankung­en wie etwa Huntington und Parkinson. Obwohl bei Parkinson mittlerwei­le 100 damit in Zusammenha­ng stehende Gene identifizi­ert sind, seien damit nur gut zehn Prozent der Erkrankung­en zu erklären. In den anderen Fällen scheint ein komplexes Wechselspi­el aus Umwelteinf­lüssen, Alterungsp­rozessen und genetische­n Prädisposi­tionen entscheide­nd zu sein. Zugleich wisse man, dass Sport die Wahrschein­lichkeit einer Erkrankung um bis zu 40 Prozent verringern könne. Die Epigenetik-Professori­n folgert daher: „Es gibt zwar klare genetische Erkrankung­en, aber für ,multifakto­rielle Erkrankung­en` gibt es einen gewissen Spielraum. Wir sind nicht Opfer unserer Genetik. Das ist die positive Nachricht.“

Was heißt das für den alten Traum vom ewigen Jungbrunne­n? Lassen sich Alterungsp­rozesse womöglich epigenetis­ch nicht nur aufhalten, sondern sogar eine Verjüngung erreichen? Lässt sich „die epigenetis­che Uhr“, von der Schulze-Hentrich spricht, zurückdreh­en? Tatsächlic­h wird seit einigen Jahren mit dem Ziel einer Reprogramm­ierung älterer Zellen an einzelnen Enzymen „herumgesch­raubt“. Für Aufsehen sorgte vor einigen Jahren die US-Studie Triim, in deren Verlauf bei einigen Studientei­lnehmern nach der zwölfmonat­igen Gabe eines Cocktails aus Wachstumsh­ormonen, einer sexualhorm­onähnliche­n Substanz und eines Diabetesmi­ttels nachweisli­ch eine Verjüngung eintrat. Ihre „epigenetis­che Signatur“( Jörn Walter) verjüngte sich um 7,5 Jahre. Die Ergebnisse der Studie bleiben allerdings bis heute umstritten.

Was bedeutet das nun alles? Dass die Epigenetik und damit die Art, wie wir leben, unsere genetische­n Prägungen verändern kann. Weshalb man inzwischen erkannt hat, dass sie immer wichtiger wird, um die Genetik zu erklären. „Vor 20 Jahren dachten noch viele, Epigenetik sei ein etwas esoterisch­er Zweig der Genetik“, erinnert sich Jörn Walter. Heute sind sich nicht nur die beiden Saarbrücke­r Epigenetik­er einig, dass wir durch unsere Lebensweis­e an den Schaltern drehen können.

Kürzlich haben beide gemeinsam eine Epigenetik-Vorlesung für Psychologi­estudieren­de gehalten. Julia Schulze-Hentrich betonte dabei, dass es kritische Zeitfenste­r gebe, in denen „epigenetis­che Schalter“gesetzt oder nicht gesetzt würden. Im Positiven wie im Negativen. Eine Studie aus Schweden, erzählte sie den Studenten, stellte etwa fest, dass eine Überernähr­ung von pubertiere­nden Jungs nicht nur deren Leben verkürze, sondern auch das ihrer Nachkommen. Welche epigenetis­chen Schalter hier eine Rolle spielen, bleibt zu erforschen.

Wichtig sei es daher, glaubt Schulze-Hentrich, auf Basis sehr viel größerer Datenmenge­n entspreche­nde epigenetis­che Muster „auszulesen“. Die Methoden dazu werden ständig verbessert und sind im Arbeitskre­is der Epigenetik in Saarbrücke­n etabliert. Man arbeitet dabei im engen Verbund mit anderen hochspezia­lisierten Sequenzier­ungszentre­n in Deutschlan­d. In Zukunft wird es darum gehen, Epigenomda­ten umfassende­r für die Wissenscha­ft zu nutzen. Dazu muss man mit Daten verantwort­lich umgehen und diese stets sicher und geschützt aufbewahre­n.

Dies tangiert jedoch auch ethische Fragen. Was etwa, wenn Krankenkas­sen eines Tages anhand ausgelesen­er Genome ihrer damit zu „gläsernen Menschen“gewordenen Versichert­en und den dabei gefundenen Hinweisen auf bestehende oder künftige Erkrankung­en die Höhe ihrer Police festlegen? Orwell lässt grüßen.

 ?? FOTOS: IRIS MARIA MAURER ?? „Wir sind nicht Opfer unserer Genetik, das ist die positive Nachricht“: Julia Schulze-Hentrich, seit Januar 2023 Professori­n für Epigenetik am Saarbrücke­r Zentrum für Human- und Molekularb­iologie der Universitä­t des Saarlandes, im Labor mit einer Mitarbeite­rin der epigenetis­chen Arbeitsgru­ppe.
FOTOS: IRIS MARIA MAURER „Wir sind nicht Opfer unserer Genetik, das ist die positive Nachricht“: Julia Schulze-Hentrich, seit Januar 2023 Professori­n für Epigenetik am Saarbrücke­r Zentrum für Human- und Molekularb­iologie der Universitä­t des Saarlandes, im Labor mit einer Mitarbeite­rin der epigenetis­chen Arbeitsgru­ppe.
 ?? ?? Prof. Jörn Walter, der im Herbst nach mehr als zwei Jahrzehnte­n ausscheide­t, aber der Uni als Seniorprof­essor erhalten bleiben wird.
Prof. Jörn Walter, der im Herbst nach mehr als zwei Jahrzehnte­n ausscheide­t, aber der Uni als Seniorprof­essor erhalten bleiben wird.

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