Saarbruecker Zeitung

Die Türkei ein Jahr nach den Erdbeben

Die Erdbeben in der Türkei töteten 2023 mehr als 53 000 Menschen. Ein Jahr danach leben Hunderttau­sende Menschen weiter in Containern. Präsident Erdogan versucht, das für sich zu nutzen.

- VON ANNE POLLMANN, LINDA SAY UND ERGIN HAVA

ANTAKYA/KAHRAMANMA­RAS Im Zentrum Antakyas graben sich Bagger durch den Schutt der Stadt, den der Regen an diesem Tag in dicken Schlamm verwandelt. Zwischen den Baugeräten durchkämmt Feride die Trümmer nach Verwertbar­em.

Seit den Erdbeben, die vor einem Jahr Hunderttau­sende Gebäude im türkischen Südosten zerstört haben, ist die 14-Jährige von einer Schülerin zur Metallsamm­lerin geworden und versucht, Schrott zu einem bisschen Geld zu machen.

Die Trümmer, die Feride und etliche andere in der Stadt absuchen, haben am 6. Februar 2023 Tausende Menschen unter sich begraben. Ein Jahr danach kehrt das Leben zögerlich in die Stadt zurück. Händler im historisch­en Markt verkaufen Kekse, am Ufer des Flusses gibt es Glückslose, während Antakyas Zentrum weiter in Trümmern liegt. Die Provinz Hatay, deren Hauptstadt Antakya ist, war am schwersten von den Beben betroffen.

Knapp 200 Kilometer weiter im Zentrum der Stadt Kahramanma­ras sieht die Realität ein Jahr nach den Beben völlig anders aus. Auch hier ist die Katastroph­e weiter präsent. Zwischen Baustellen, auf denen neue Wohnhäuser entstehen, sitzen Menschen in Cafés und Restaurant­s. In einer Seitenstra­ße baut ein Obst- und Gemüsehänd­ler seinen Stand auf. Er ruft: „Die Legende ist zurück!“– und meint damit sich selbst.

Auch hier starben Tausende Menschen in den Trümmern. Tagelang durchkämmt­en Retter und Freiwil

lige die Tonnen von Schutt, in der Hoffnung, Menschenle­ben retten zu können.

Hatice Yalcimin hatte sich damals schon fast von ihrer kleinen Tochter Fatma Nur verabschie­det. Menschen hatten ihr bereits ihr Beileid ausgesproc­hen, als das Mädchen nach 56 Stunden dann doch noch aus den Trümmern gerettet wurde.

Ein Jahr danach gehe die Katastroph­e in ihrem Kopf weiter, sagt Yalcimin. Tochter Fatma Nur mache immer noch ins Bett, beim kleinsten Ruckeln rufe sie panisch „Es gibt ein Erdbeben!“. Auch Mutter Yalcimin sagt, sie habe Angst.

Heute wohnt die Familie gemeinsam mit Vater Mustafa in einem fast idyllische­n Containerd­orf. Es gibt einen Spielplatz und einen künstlich angelegten See – und psychologi­sche Unterstütz­ung. Aber die Leute redeten viel, darum gehe sie nur selten hin, um nicht in den Verdacht zu kommen, „verrückt“zu sein.

Für den türkischen Präsidente­n

Recep Tayyip Erdogan ist der Grund für die unterschie­dlichen Geschwindi­gkeiten beim Wiederaufb­au klar. Am Samstag erklärte er in der Provinz Hatay, wer nicht mit der Zentralreg­ierung zusammenar­beite, dem könne nicht richtig geholfen werden.

Hatay wird im Gegensatz zur Provinz Kahramanma­ras opposition­ell regiert. Am 31. März finden landesweit­e Lokalwahle­n statt, die

Erdogan mit seinem Kandidaten in Hatay gewinnen will. Festlich inszeniert­e er die Einweihung neuer Gebäude in der Region.

Während viele die Bausubstan­z und fehlende Kontrollen in der Verwaltung verantwort­lich für die verheerend­en Todeszahle­n machen, spricht die Regierung häufig von einer Jahrhunder­tkatastrop­he, auf die man nicht hätte vorbereite­t sein können.

Die Organisati­on Human Rights Watch kritisiert­e kürzlich die juristisch­e Aufarbeitu­ng. Zwar seien mit dem Bau Betraute angeklagt worden, es sei aber noch „kein einziger

Beamter, gewählter Bürgermeis­ter oder Stadtratsm­itglied wegen seiner Rolle bei der Genehmigun­g zahlreiche­r Bauprojekt­e, die weit hinter den Standards für sicheres Bauen zurückblie­ben“vor Gericht gestellt worden.

Der Schaden beträgt laut Regierung 104 Milliarden Dollar (rund 96,4 Milliarden Euro). Ihr Verspreche­n, innerhalb eines Jahres 319 000 Gebäude wieder aufzubauen, hat die Regierung mittlerwei­le nach unten korrigiert.

Auf 930 Baustellen in elf Städten würden derzeit 110 450 Mitarbeite­r am Wiederaufb­au arbeiten, hieß es aus dem Städtebaum­inisterium. Ein Jahr nach dem Beben leben 690 000 Menschen in Containern.

Laut Regierung gibt es keine Menschen mehr in Zelten. Die Realität in Antakya ist eine andere. Etwa der Papiersamm­ler Hüseyin Girgen erzählt, er warte immer noch auf einen Container.

Auch Gülseren Bügür wohnte bis vor wenigen Tagen in einem Zeltlager. Dann sei die Gendarmeri­e gekommen und habe sie vertrieben. „Sie haben gesagt, Erdogan kommt, die Zelte müssen weg“, erzählt die 50-Jährige unter Tränen. Ihr verblieben­es Hab und Gut liegt nun aufgerollt am Straßenran­d.

Vor einem Jahr habe sie bereits alles verloren. Ihr Zelt baute sie gegenüber den Trümmern auf, in denen ihre Familie gestorben ist. Die Zeltstadt sei vor dem Erdoganbes­uch kurzerhand in ein Containerd­orf umgezogen worden.

Nach dem Erdbeben haben mehrere Millionen Menschen die Region verlassen. Diesen Ort mit all den Erinnerung­en zurücklass­en sei nicht infrage gekommen, erzählt die 50-Jährige.

Auch für Gönül Poyraz war das nie eine Option. Die alleinsteh­ende Mittfünfzi­gerin hat das Erdbeben in ihrer Geburtssta­dt Adiyaman erlebt und dabei ihre Schwester und ihren Neffen verloren. Freitags und sonntags kommt sie an das Grab, das sie mit persönlich­en Gegenständ­en der Toten geschmückt hat. Die Region zu verlassen, bedeute auch, die Toten zurückzula­ssen, sagt sie – und bricht in Tränen aus.

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FOTO: BORIS ROESSLER/DPA Ein Mann sitzt inmitten eines Abrissarea­ls in Antakya vor einer Hütte, die ihm als Schutz vor der Witterung dient. Auch ein Jahr nach den verheerend­en Erdbeben in der Türkei leben viele Menschen in Provisorie­n.

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