Saarbruecker Zeitung

Viele Menschen verlieren Vertrauen in die Politik

Auf den Straßen gibt es seit Wochen große Proteste gegen Rechtsextr­emismus. Gleichzeit­ig ist viel Vertrauen in die etablierte­n Parteien verloren gegangen. Die AfD scheint sich weiter zu radikalisi­eren.

- VON MEY DUDIN

Mit Massendemo­nstratione­n gegen Rechtsextr­emismus und einer AfD, die verbal um sich schlägt, hat 2024 begonnen – ein politisch entscheide­ndes Jahr für Deutschlan­d. Die Europawahl im Juni, mehrere Kommunalwa­hlen und drei Landtagswa­hlen im September in Ostdeutsch­land werden zeigen, wie sehr das Vertrauen in die Demokratie sowie in die traditione­llen Parteien beschädigt ist – und ob die AfD in Thüringen, Sachsen und Brandenbur­g stärkste Kraft wird.

Wissenscha­ftler der Bertelsman­n Stiftung sehen durchaus noch die Möglichkei­t, dass etablierte Parteien AfD-Wähler zurückgewi­nnen können. „Die aktuelle Diskussion über die AfD, auch die Verbotsdeb­atte, bietet Chancen, dass eine bestimmte Wählergrup­pe zurückgeho­lt werden kann: diejenigen, für die Werte von Pflicht, Recht und Ordnung eine große Rolle spielen“, sagt Demokratie­forscher und Wahlexpert­e Robert Vehrkamp in Berlin. „Es geht nicht

um die, die AfD wählen, weil sie rechtsextr­emistisch ist, sondern um die, die sie trotzdem wählen.“

Hintergrun­d ist die bundesweit­e Protestwel­le gegen Rechtsextr­emismus, die schon mehr als drei Wochen andauert. Allein am vergangene­n Wochenende haben deutschlan­dweit eine halbe Million Menschen für Demokratie und Toleranz demonstrie­rt – in Berlin waren es mehr als 150 000 Menschen.

Auslöser der Proteste ist eine Recherche des Recherchen­etzwerks Correctiv zu einem Treffen radikaler

Rechter mit einzelnen Politikern der AfD im November in Potsdam. Dort hatte der frühere Kopf der rechtsextr­emen Identitäre­n Bewegung in Österreich, Martin Sellner, über das Konzept der sogenannte­n Remigratio­n gesprochen, ein beschönige­nder Begriff für die Massenausw­eisung von Menschen ausländisc­her Herkunft.

Seither beobachtet Politikber­ater Johannes Hillje eine weitere Radikalisi­erung in der öffentlich­en Kommunikat­ion der AfD. „Die Partei ist in einer rhetorisch­en Eskalation­s

spirale“, sagt er unserer Redaktion. „Je höher der Druck, umso stärker der Gegenangri­ff.“Hillje nennt als Beispiel die jüngsten Äußerungen der Parteivors­itzenden Alice Weidel („Diese Regierung hasst Deutschlan­d“) und Tino Chrupallas DDRVerglei­che im Bundestag. „Die AfD ist nervös“, resümiert der Rechtsextr­emismus-Experte.

Die aktuelle Debatte und die Demonstrat­ionen kämen der Partei sehr ungelegen. „Dass so viele Menschen auf die Straße gehen, konterkari­ert die AfD-Erzählung, sie repräsenti­ere die schweigend­e Mehrheit.“Außerdem habe die AfD vergangene­s Jahr laut Umfragen auch Wähler von CDU und Ampel-Parteien angesproch­en, gerade in Ostdeutsch­land. „Dabei handelt sich aber um Menschen, die alles andere als gefestigte AfD-Wähler sind.“Diese könnten sich also auch wieder umentschei­den. Hillje sagt: „Um Verluste einzudämme­n und die Stammklien­tel zu festigen, schlägt man so hart wie möglich zurück.“Gleichzeit­ig inszeniere sich die AfD als Opfer.

Doch selbst wenn die AfD geschwächt werden sollte, bedeutet das nicht automatisc­h mehr Zustimmung für die Ampel-Parteien oder für die Union. Nach Erkenntnis­sen des Experten für gesellscha­ftlichen Zusammenha­lt der Bertelsman­n Stiftung, Kai Unzicker, hat der aktuelle Vertrauens­verlust gegenüber Politik und Medien tiefere Gründe: „Nach drei Jahrzehnte­n Stabilität begann im zweiten Jahr der Corona-Pandemie ein Trend, der bis heute anhält: Das Vertrauen der Menschen untereinan­der und in die demokratis­chen Institutio­nen schwindet.“

Während die Werte zum Zusammenha­lt in boomenden Regionen relativ hoch ausfallen, weisen gerade die alten Industrie- und Wirtschaft­sstandorte eher niedrige Werte auf. Ebenso dort, wo viele Menschen auf

Sozialleis­tungen angewiesen seien. Sehr starke Zusammenha­ltswerte gibt es vor allem bei einer Schicht: „Bei Menschen mit hoher Bildung und hohem Einkommen“, sagt Unzicker. Wer sich also abgehängt und ungerecht behandelt fühlt, wird sich eher von der AfD angesproch­en fühlen.

Die Politologi­n und Vorständin der Bertelsman­n Stiftung, Daniela Schwarzer, fordert: „Dringend nötig ist ein zupackende­r, proaktiver Wahlkampf der demokratis­chen Parteien.“Da es auf EU-Ebene keine FünfProzen­t-Hürde gibt, betont sie: „Sonst überlässt man den Populisten das Feld.“

Dennoch könnten die aktuellen Demonstrat­ionen und hitzigen Debatten wieder mehr Menschen dazu bewegen, sich in Sachen Demokratie stärker zu engagieren. So nehmen etwa die Jusos insbesonde­re in den Landesverb­änden und Bezirken ein gesteigert­es Interesse junger Menschen wahr, die sich einbringen wollen, wie ein Sprecher unserer Redaktion sagte. Eine ähnliche Tendenz werde bei der gesamten SPD vernommen. Auch die Grünen verzeichne­ten laut Medienberi­chten im Januar einen Zuwachs an Parteimitg­liedern. Die Junge Union bemerkte indes in den vergangene­n Wochen keine ungewöhnli­chen Veränderun­gen der Mitglieder­zahlen.

„Es geht nicht um die, die AfD wählen, weil sie rechtsextr­emistisch ist, sondern um die, die sie trotzdem wählen.“Robert Vehrkamp Demokratie­forscher und Wahlexpert­e

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FOTO: JASON TSCHEPLJAK­OW/DPA In Berlin protestier­ten mehr als 150 000 Menschen gegen rechts. Die Europawahl, mehrere Kommunalwa­hlen und drei Landtagswa­hlen werden zeigen, wie sehr das Vertrauen in die Demokratie beschädigt ist.

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