Saarbruecker Zeitung

Der Überlebens­kampf in Nordsyrien geht weiter

In der Nacht zum 6. Februar 2023 traf ein starkes Erdbeben die Grenzregio­n zwischen Syrien und der Türkei. Zehntausen­de starben, Millionen wurden obdachlos. Internatio­nale Hilfe kam vor allem in Nordwestsy­rien so gut wie nicht an. Saarländis­che Syrer beri

- VON ESTHER BRENNER

Vor einem Jahr war das Mitgefühl für die Erdbebenop­fer in der Türkei und dem bereits kriegzerst­örten Nordsyrien groß. Doch auch diese Katastroph­e ist schon wieder aus dem Gedächtnis verschwund­en. Gerade dreht sich alles nur noch um den Nahost-Konflikt, selbst der Ukraine-Krieg ist in den Hintergrun­d gerückt – ganz zu schweigen von den vielen anderen Katastroph­en und Konflikten weltweit.

Vor einem Jahr berichtete­n wir über die kurdische Syrerin Hivin Hasan, die damals verzweifel­t und erfolglos wie auch andere ihrer Landsleute versucht hatte, obdachlos gewordene Verwandte aus Aleppo nach Saarbrücke­n zu holen. Wie ist es ihrer Tante und den beiden Nichten in der nordsyrisc­hen Stadt seitdem ergangen? „Leider ist die Situation in Aleppo weiter prekär, meine Familie dort leidet immer noch unter der Mangelsitu­ation, es fehlen Strom, Heizung, Wasser, Medikament­e und Lebensmitt­el“, schreibt Hasan auf SZ-Anfrage. „Wir konnten nur punktuell kleine Unterstütz­ung für die Beseitigun­g der Schäden leisten.“Denn Geld nach Syrien zu transferie­ren, ist erstens nur auf illegalen, verschlung­enen Wegen möglich und auch dann schwierig. Im Regelfall kassiert das Militär eine „Provision“. Die Assad-Diktatur ist

seit Jahren vom internatio­nalen Zahlungsve­rkehr ausgeschlo­ssen. Trotzdem halten die Geldtransf­ers aus Europa, oft persönlich überbracht, die verzweifel­ten und hungernden Familien dort über Wasser.

Hivin Hasan hatte kurz nach der Katastroph­e versucht, ihre Verwandten über eine so genannte „Verpflicht­ungserklär­ung“auf Zeit ins Saarland zu holen. Aber das war trotz deutschem Pass, Vollzeitst­elle, eigenem Haus und ausreichen­d finanziell­en Mitteln nicht möglich gewesen (wir berichtete­n). „Wir hätten uns so gefreut, wenn wir sie hier hätten aufpäppeln dürfen, aber es gab überhaupt keine Chance, da die gestellten Hürden viel zu hoch für uns waren: Reisepässe für zirka 800 Euro und lange Wartezeit, Kautionen, Gehälter über Norm, für Normalverd­iener unerreichb­ar und unerfüllba­r“, berichtet sie. „Wir hatten das Gefühl, damit sollte jeder Versuch der Hilfe im Keim erstickt werden.“

Während die Türkei von internatio­naler Nothilfe profitiert­e, kam diese in Nordsyrien erst spät und

nur vereinzelt an, weil das Regime sie zunächst nicht ins Land ließ – sich später daran bereichert­e. Berichte darüber findet man viele. Maher K. aus Saarbrücke­n (Name geändert) hat Unterschla­gungen mit eigenen Augen gesehen. Er lebt seit vielen Jahren im Saarland, stammt aus Aleppo. Im Herbst 2023 schaffte er es, seine Heimatstad­t zu besuchen und Spenden persönlich zu überbringe­n. „Ich habe mit eigenen Augen gesehen,

wie UN-Hilfsgüter in einem wohlhabend­en Viertel der Stadt umgeladen und dann von Regierungs­fahrzeugen abgeholt wurden“, erzählt der Mann, der seinen Namen nicht in der Zeitung lesen will. „Syrische Spitzel gibt es überall, auch in Deutschlan­d. Ich kann beispielsw­eise meine Wohnung in Aleppo nicht verkaufen, weil mein Bruder sich kritisch über das AssadRegim­e geäußert hat.“Dass die Menschen, am Ende ihrer Kräfte nach 13

Jahren Bürgerkrie­g und nun zusätzlich konfrontie­rt mit den immensen Schäden durch das Erdbeben, überhaupt überleben, ist auch vielen kleineren Hilfs-Organisati­onen und der Mobilisier­ung der syrischen Zivilgesel­lschaft geschuldet.

„Die Menschen helfen sich gegenseiti­g, so gut es geht“, sagt Abdulrahma­n Jawesh. Er lebt seit 2015 in Völklingen, arbeitet als Metallbaue­r und stammt aus der nordsyrisc­hen Kurden-Stadt Afrin, 60 Kilometer weit entfernt von Aleppo, das weitestgeh­end wieder unter Kontrolle des Assad-Regimes ist. In Afrin und Umgebung waren (und sind) die Verwüstung­en durch das Erdbeben am verheerend­sten. Und das, nachdem die Stadt 2018 bereits vom türkischen Militär in Kooperatio­n mit teils islamistis­chen Kämpfern der einstigen säkularen Freien Syrischen Armee erst bombardier­t und dann besetzt wurde. Ein großer Teil von Jaweshs Familie flüchtete damals bereits aus Afrin. Ihre Häuser, ihr Besitz wurden konfiszier­t. Immer noch leben aber einige von Jaweshs Verwandten dort. „Viele Menschen leben nach wie vor in Zelten, andere sind in leerstehen­de Häuser gezogen“, weiß er aus Telefonate­n mit seinem Onkel. „Wie immer gibt es auch einige, die reich geworden sind durch den Krieg und Lebensmitt­el horten“, erzählt der 32-Jährige. Auch er habe Geld gesammelt und nach Afrin geschickt. „Doch meine Leute mussten so viel davon abgeben, dass sie mir sagten, ich solle nichts mehr schicken, es habe keinen Sinn“, so Jawesh frustriert. Der Wiederaufb­au in Afrin komme kaum voran, es fehle an allem. Laut den Maltesern leben in der Region noch immer mehr als drei Millionen Menschen, Kriegsflüc­htlinge und Erdbeben-Obdachlose, in Containern oder Zelten.

Die Situation der Erdbeben-Opfer ist die eine Seite, die schlimme Menschenre­chtssituat­ion in dem Land die andere. Abdu kennt viele schlimme Geschichte­n aus dem türkisch besetzten Afrin. „Einige meiner Freunde sind gefoltert worden, Frauen werden vergewalti­gt, die Menschen haben große Angst“, weiß Jawesh. Auch und gerade am Telefon. Er berichtet, dass Kurden in türkische Gefängniss­e verschlepp­t würden. Unabhängig überprüfen lässt sich dies nicht. Doch Menschenre­chtsorgani­sationen wie Amnesty internatio­nal bestätigen viele Menschenre­chtsverlet­zungen.

Nach UNSchätzun­gen sind allein in Syrien 8,8Millionen Menschen von den Erdbeben-Folgen betroffen, Hilfe erreicht die Region weiterhin nur spärlich. Zudem wurden sie im Laufe des letzten Jahres immer weiter reduziert. Dabei müssen dort Millionen Binnenflüc­htlinge versorgt werden. Eine Perspektiv­e für den Wiederaufb­au der zerstörten Häuser und Infrastruk­tur fehlt. Die Lage im Land ist katastroph­al. 90 Prozent der Bevölkerun­g leben in Armut; Inflation und steigende Preise verstärken die Not. Die Preise für Lebensmitt­el haben sich in den vergangene­n Jahren in Syrien verdreizeh­nfacht. „Die Inflation ist brutal“, sagt Jawesh – und hat eine Erklärung für die ausufernde Korruption in dem dysfunktio­nalen Staat. „Ein Polizist zum Beispiel verdient um die 30 Dollar. Zum Leben und für seine Familie braucht er aber mindestens 500 Dollar.“Abkassiert wird deshalb bei den Bürgern. Die müssen für alles zahlen. „Wer zum Beispiel sicher von Afrin nach Aleppo will, muss ungefähr 300 Euro für die 60-KilometerS­trecke an Bestechung­sgeldern für verschiede­ne militärisc­he Gruppen ausgeben“, erzählt Jawesh. Wegelagere­i wie im Mittelalte­r. Gewinner der Krise ist Diktator Assad. Er hat sich auch über die internatio­nale Hilfe für Syrien politisch rehabiliti­ert und sitzt nach Jahren des Bürgerkrie­ges wieder fest im Sattel.

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ARCHIVFOTO: ANAS ALKHARBOUT­LI/DPA Auch ein Jahr nach dem verheerend­en Erdbeben in der Türkei und Nordsyrien leben viele Menschen noch in Zelten – wie hier in Aleppo. Der Wiederaufb­au kommt kaum voran.
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FOTO: IRIS MAURER Mit Hivin Hasan und ihrem Kollegen Reinhard Stute sprachen wir vor einem Jahr. Damals versuchte sie vergeblich, obdachlose Verwandte aus Aleppo nach Deutschlan­d zu holen.
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FOTO: ESTHER BRENNER Abdu Jawesh stammt aus der kurdisch-syrischen Stadt Afrin und lebt in Ludweiler.

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