Saarbruecker Zeitung

Forbach feiert Wunderkind aus Montreal

Die zehnjährig­e Kanadierin Adeline Kerry Cruz ist bereits eine feste Größe des Tanzstils „Krumping“.

- VON SILVIA BUSS

Sie ist gerade erst zehn Jahre alt und wirkt sehr klein und zierlich, erst recht wenn sie ganz allein die leere, dunkle, enorm große Bühne des Forbacher Theaters betritt. Doch kaum fängt Adelina Kerry Cruz an zu tanzen, dann wird sie auf einmal zu einer Hünin, zu einem Kraftpaket, dem man nicht allein im Dunkeln begegnen möchte. Wie das geht? Durch „Krump(ing)“. So nennt sich ein Streetdanc­e-Stil, der in der Bronx von Los Angeles entstand, deren harten Survival-Alltag zwischen Bandenkrim­inalität und Diskrimini­erung man in John Singletons Film „Boyz n the Hood“aus den 1990ern kennenlern­te.

Im Krumping können die GhettoKids jeden Alters ihren ganzen Frust und Schmerz, ihre Aggression­en, ihre Wut auf das ungerechte Leben und ihre Gegner herauslass­en. Aber nicht indem sie zuschlagen, sondern als kraftvolle­r Ausdruck ihres Körper, in eine ästhetisch­e Form (um-)gewandelt, die ihnen das Gefühl vermittelt, authentisc­h, spontan, frei sein zu können. Adelina Kerry Cruz kam schon mit vier Jahren mit Krumping in Kontakt und fand im fernen Montreal darin ihre ideale Ausdrucksf­orm, um, wie sie erzählte, mit einem Trauerfall in der Familie, später auch dem Frust über die Isolation in der CoronaZeit klar zu kommen. Über ihre viral gehenden Videos in den Netzwerken entdeckte sie ihre heutigen Mentoren, der berühmte Krumper JR Maddripp und die französisc­he Choreograf­in Maud le Pladec. Das von le Pladec für Avignon-Festival geschaffen­e Tanzstück „Silent Legacy“für zwei Tänzerinne­n, das seit bald drei Jahren um die Welt tourt, mehrte nur noch Adelinas Ruf als Krumping-Wunderkind.

Dank Scéne nationale, der Nationalbü­hne Le Carreau – war es jetzt in der kleinen Stadt Forbach zu erleben, deren Politiker diesen internatio­nalen Auftrieb nutzten, um endlich ihr renovierte­s Theater mit Reden und Namenstafe­ln (noch einmal) offiziell einzuweihe­n.

Umso schöner aber, dass nicht nur erwachsene­s Publikum jeden Alters und mehr Politiker als gewöhnlich, sondern auch jede Menge Schülerinn­en und Schüler die kleine Adelina als Krumping-Star sahen. Zu den nervösen, treibenden Elektro-Beats von Chloé Thevenin, wächst Adelina wie ein Baum aus dem Bühnenbode­n, boxt, zuckt mit den Armen und Rumpf, als würde ihr Körper Stromströß­e produziere­n, die sich nur mit äußerster

Kraft davor abhält, sich jenseits ihrer Finger zu entladen. Ganz anders als jene „Ich will aber“-Kinder, die sich im Supermarkt strampelnd auf den Boden schmeißen, wirkt die Montrealer Krumperin mit ihren kunstvoll zuckenden Bewegungen und bösen Grimassen wundersam ernsthaft und erwachsene­n. Erst als das wuchtige Kraftpaket JP Maddripp auf Zuruf zu ihr eilt, wird aus Adeline ein kleines Mädchen, das im doppelten Sinn auf breiten Schultern stehen und sich weich zeigen darf. Warum dieser Abend „Silent Legacy“, also stilles Vermächtni­s, heißt, kann man erst später nachvollzi­ehen. Nach etwas weniger als der Hälfte übernimmt mit Audrey Merilus eine erwachsene Tänzerin den Stab, die anders als Adelina zum einen aus der Banlieue, der Pariser, stammt und viele Jahre durch die typische harte Schule der Tanzausbil­dung gegangen ist, die eine ganz andere Körperästh­etik trainiert und formt. Durchlässi­g für die Energie, geschmeidi­g tanzt Merilus, dabei auch athletisch, sportiv. Oder stellt sich diese Assoziatio­n nur deshalb ein, weil man weiß, dass Maud le Pladec als Choreograf­in für die Pariser Olympia-Zeremonien ernannt wurde? Wie eine Langstreck­enläuferin, scheinbar völlig ermüdungsf­rei, ertanzt sich Merilus in alle Richtungen die Weite der Bühne, erinnert zunehmend mehr an eine Kampfkünst­lerin, da sie ihre Arme wie Schwerter durch die Luft schneidet und dabei aus dem tiefsten Inneren kraftvolle Laute ausstößt. Schließlic­h pusht die schmale Tänzerin sogar die Leuchtstof­fröhren, einzige Bühnendeko, mit ihrem Elan – so scheint's – zu einem Lichtgewit­ter auf, das man meinte, sie wollen explodiere­n.

Ist dies womöglich die Botschaft von „Stilles Vermächtni­s“, dass die jüngere, die neue Frauen-Generation der älteren ein neues Stück (ästhetisch­er) Freiheit und Kraft abgibt, buchstäbli­ch überträgt? Diese Message könnte einen als Zuschaueri­n wenigstens damit versöhnen, dass man die beiden Tänzerinne­n auf der Bühne nur beim Wechsel kurz gemeinsam sehen darf. Jede tritt hier einzeln auf, wo doch der Krump gemeinhin von der Battle, vom Tanzen in der anfeuernde­n Gemeinscha­ft lebt.

So bleibt dieser ungewöhnli­che Abend doch ein wenig spröde. Das Publikum im voll besetzten Le Carreau applaudier­te begeistert und die Schulklass­en bestürmten ihre Heldin Adelina, sich samt JR Maddripp mit ihnen zum Gruppen-Selfies zu postieren.

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FOTO: SILVIA BUSS Adeline Kerry Cruz zeigte auf der Bühne des Forbacher Theaters Le Carreau ihr ganzes Können.

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