Saarbruecker Zeitung

Was die Abschaffun­g des UNRWA bedeuten würde

Haben Deutschlan­d und andere europäisch­e Länder bislang aus reiner Humanität Millionen an das Hilfswerk UNRWA gezahlt? Eine Klausel im Völkerrech­t lässt andere Schlüsse zu.

- VON MEY DUDIN

Es ist sind äußerst schwerwieg­ende Vorwürfe: Zwölf Mitarbeite­r des UN-Palästinen­serhilfswe­rks UNRWA sollen in den beispiello­sen Angriff der radikalisl­amischen Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 verstrickt gewesen sein. Staaten wie Deutschlan­d, Großbritan­nien, Japan, Kanada, Neuseeland und die USA setzten als Reaktion auf die Vorwürfe insgesamt mehr als 400 Millionen Euro an Zahlungen aus. Es mehren sich Rufe, das Hilfswerk aufzulösen.

Was in der Debatte bislang nicht gesagt wird: Wenn UNRWA aufgelöst wird oder aus irgendwelc­hen Gründen nicht mehr arbeitsfäh­ig ist, droht nicht allein eine humanitäre Katastroph­e. Ungültig wird dann auch eine völkerrech­tliche Schranke, die seit Jahrzehnte­n verhindert, dass sich die palästinen­sischen Flüchtling­e in der Hoffnung auf ein besseres Leben auf den Weg nach Europa machen.

Konkret steckt dahinter eine Ausschluss­klausel in Artikel 1D der Genfer Flüchtling­skonventio­n, ein völkerrech­tlicher Vertrag, dem auch Deutschlan­d beigetrete­n ist. Es ist eine Klausel, die grundsätzl­ich ausschließ­t, dass die Konvention für Millionen palästinen­sische Flücht

linge gilt. Das hat den Effekt, dass diese Menschen im Wesentlich­en im Gazastreif­en, in der Westbank, im Libanon, in Syrien oder in Jordanien bleiben, wo das UNRWA ihnen hilft.

Laut dem Heidelberg­er Völkerrech­tler Matthias Hartwig betrifft diese Klausel Personen, die 1948 aus Israel oder 1967 aus von Israel besetzten Gebieten geflohen sind sowie für ihre Nachkommen, die weiter im Nahen Osten ausharren. „Es ist

sicherlich der Zweck dieser Klausel gewesen, dass diese Personen sich nicht wie andere Flüchtling­e von dort fortbewege­n können“, sagt Hartwig unserer Redaktion. Das ändert sich aber, „wenn der UNRWA-Schutz, aus welchen Gründen auch immer, endet“. Der Völkerrech­tler erläutert: „Wenn also die UNRWA keine Gelder mehr hat und daher ihre Aufgaben nicht mehr erfüllen kann, zieht das nach meinem Verständni­s nach sich,

dass die betroffene­n Personen in den Genuss der Genfer Flüchtling­skonventio­n kommen.“

Die Idee des UNRWA war zur Zeit der Gründung vor 75 Jahren, dass die Vertrieben­en nach kurzer Zeit in ihre Heimat zurückkehr­en können, wenn eine Lösung im Nahostkonf­likt gefunden wurde, was aber nie geschah. Die Zahl der Flüchtling­e, die Anspruch auf Dienste des Hilfswerks haben, stieg seither von etwa 700 000 auf fast sechs Millionen an.

Das wegen der Terrorvorw­ürfe unter Druck geratene Hilfswerk teilte jüngst mit, dass ein anhaltende­r Stopp der internatio­nalen Finanzieru­ng es zwingen würde, die Aktivitäte­n „Ende Februar“einzustell­en. Das hätte auch Folgen für die Europäisch­e Union, sofern es keinen Folgemecha­nismus gibt. Palästinen­sische Flüchtling­e können dann von der Möglichkei­t Gebrauch machen, als Flüchtling­e Asyl zu beantragen, sobald sie in ein EU-Land eingereist sind. Noch sieht es anders aus. Hartwig, der am Max-Planck-Institut für ausländisc­hes öffentlich­es Recht und Völkerrech­t tätig ist, verweist auf eine EU-Qualifikat­ionsrichtl­inie, „die ausdrückli­ch Bezug nimmt auf die Genfer Flüchtling­skonventio­n und besagt, dass bestimmte Personen, nämlich diejenigen, welche durch die UNRWA geschützt werden, in Europa keinen Schutz in Anspruch nehmen können“. Die Statistik des Bundesamts für Migration und Flüchtling­e (BAMF) zeigte zuletzt eine geringe Schutzquot­e: Bei Personen aus den palästinen­sischen Gebieten, die in Deutschlan­d Schutz suchten, betrug sie beispielsw­eise 11,5 Prozent.

Beobachter­n zufolge sind sich europäisch­e Staaten der Bedeutung der völkerrech­tlichen Ausschluss­klausel für Palästinen­ser durchaus bewusst. Denn das UNRWA musste zeitweise auch im Libanon- oder Syrienkrie­g die Arbeit einstellen, was dazu führte, dass Flüchtling­e unter anderem in Deutschlan­d Asyl beantragte­n. Einige EU-Länder hätten viele Stunden damit verbracht, für eine alternativ­e Auslegung von Artikel 1D zu argumentie­ren, sagen die Beobachter. Doch der Europäisch­e Gerichtsho­f in Luxemburg und viele nationale Gerichte wiesen solche Argumentat­ionen größtentei­ls zurück und entschiede­n sich für den Schutz.

Eine unabhängig­e Gruppe von Experten will nun ab Mitte Februar die Vorwürfe gegen das UNRWA prüfen. Die Zusammenar­beit mit mehreren Angestellt­en wurde bereits beendet.

SPD-Außenpolit­iker Ralf Stegner sagt im Gespräch mit unserer Redaktion: „Was diese Kommission macht, scheint mir der richtige Ansatz zu sein, um zu einer Veränderun­g zu kommen, die möglicherw­eise heißen kann, dass etwas anderes an die Stelle der UNRWA treten könnte, wenn es nicht gelingt, die strukturel­len Probleme zu lösen.“Er betont aber: „Im Moment gibt es keine vernünftig­e Alternativ­e, wenn man nicht eine humanitäre Katastroph­e will.“

Zugleich wünscht sich der Bundestags­abgeordnet­e mehr europäisch­es Engagement im Nahostkonf­likt: „Die EU hat diplomatis­ch kolossal versagt: Aus Europa oder Deutschlan­d gab es bislang keine diplomatis­chen Initiative­n, die den Weg zu einer Lösung des Konflikts bereiten könnten, indem Sicherheit­sinteresse­n Israels, Kampf gegen Terrorismu­s und Antisemiti­smus und Humanität und Selbstbest­immung für das palästinen­sische Volk zusammenge­führt werden.“

„Im Moment gibt es keine vernünftig­e Alternativ­e, wenn man nicht eine humanitäre Katastroph­e will.“Ralf Stegner SPD-Außenpolit­iker

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FOTO: AP PHOTO/MAHMOUD ILLEAN Wie hier, bei einer Demonstrat­ion in Jerusalem, werden immer mehr Stimmen laut, die das UNRWA wegen angebliche­r Hamas-Verbindung­en abschaffen möchten.

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