Saarbruecker Zeitung

Die EU setzt sich ein neues Klimaziel

Ein breites Maßnahmenb­ündel hat die EU in den letzten Jahren geschnürt, um den CO2-Ausstoß bis 2030 um 55 Prozent zu senken. Nun ist das nächste Ziel an der Reihe: Bis 2040 sollen es 90 Prozent sein.

- VON GREGOR MAYNTZ

EU-Klimakommi­ssar Wopke Hoekstra nimmt Anleihen an die ersten Worte eines Menschen auf dem Mond, als er am Dienstagna­chmittag die Zahl enthüllt, auf die Politik und Wirtschaft seit Wochen warten: 90. Die Europäisch­e Union soll bis zum Jahr 2040 den Ausstoß des klimaschäd­lichen Treibhausg­ases um 90 Prozent gegenüber den Werten von 1990 verringern, damit das Ziel eines klimaneutr­alen Europas bis 2050 realistisc­h bleibt. Das sei ein „Riesenschr­itt“, den die EU an diesem Dienstag, Anfang Februar 2024 unternehme, lautet die Einschätzu­ng des Niederländ­ers. Doch Nasa-Astronaut Neil Armstrong landete unmittelba­r nach der Ankündigun­g des „großen Schrittes für die Menschheit“bereits im Ziel. Hoekstras Schritt bleibt dagegen vorerst in der Luft hängen. Denn nichts ist beschlosse­n, die EU-Kommission hat nur einen „Dialog eröffnet“. Die Details will sie ihrer Nachfolger­in nach den Europawahl­en am 9. Juni überlassen.

Damit liegt jedenfalls eines der wichtigste­n Themen für den Europawahl­kampf auf dem Tisch. Sofort gehen die Akteure in die Startlöche­r. Für die Rechtspopu­listen spricht die AfD-Europaabge­ordnete Sylvia Limmer vom „Klimawahns­inn“, der die Energie so teuer mache, dass in Deutschlan­d längst eine Deindustri­alisierung eingesetzt habe. 90 Prozent, das sei der „größte anzunehmen­de Wirtschaft­sunfall“. Für die Grünen ist es genau andersheru­m. 90 Prozent seien als Ziel „zaghaft“, kritisiert der Grünen-Klimaexper­te Michael Bloss – und verweist darauf, dass „selbst Söder und Aiwanger Bayern bis 2040 klimaneutr­al machen“wollten. Die Sachverstä­ndigen hätten 90 bis 95 vorgeschla­gen. Und die Grünen wollen nun 100 Prozent.

Bloss knüpft sich auch gleich den Vorschlag der Kommission vor, mehr auf die CCS-Technik zu setzen, also das Verfahren, CO aus Atmosphäre und Verbrennun­gsprozesse­n herauszuzi­ehen und verdichtet zu lagern. Das sei noch nicht entwickelt und viel zu teuer. Besser sei es, auf das zu setzen, was funktionie­re: „günstige Energie aus Sonne und Wind“. Dagegen begrüßt der Bundesverb­and der Deutschen Industrie genau diesen CCS-Anteil und hebt hervor, dass ohne diesen Anteil das 90-Prozent-Ziel bis 2040 nicht erreichbar wäre. „Angesichts weltweit sehr unterschie­dlicher Geschwindi­gkeiten und Ambitionsn­iveaus beim Klimaschut­z, darf das hoch

ambitionie­rte europäisch­e Klimaschut­zziel nicht zulasten der Wettbewerb­sfähigkeit der europäisch­en Wirtschaft gehen“, mahnt der BDI.

Aber es gibt auch übereinsti­mmendes. Da sind die Verhandlun­gen über das Netto-Null-Gesetz, die parallel am Dienstagna­chmittag in einem anderen Saal in Straßburg laufen und bei denen die Vorgaben

für die Industrie im Detail geregelt werden, wie ihre CO -Bilanz bis 2050 bei Null landen kann. Da sind aber auch die Forderunge­n von allen Seiten, die Menschen besser zu unterstütz­en, die sich mit ihren geringen Einkommen das Leben in klimaneutr­alen Wohnungen oder besser isolierten Häusern nicht leisten können. „Die Kommission muss den

Mitgliedst­aaten hier auf die Finger klopfen“, verlangt Liese.

Bei einer Zielgruppe sind sich die EU-Verantwort­lichen jedoch überhaupt nicht einig: Wie wird die Landwirtsc­haft für die Klimaziele in die Pflicht genommen? Nach brennenden Barrikaden in der Vorwoche in Brüssel sind am Dienstag auch in Straßburg protestier­ende Landwirte aufmarschi­ert. Obwohl ihre Parolen drinnen nicht zu hören sind, werden sie in vielen Reden zitiert. Die Christdemo­kraten mahnen, sie als „Partner“zu sehen, die Grünen halten die Landwirte von Interessen­vertretern für fehlgeleit­et und mehrere Abgeordnet­e sagen voraus, dass sich die Bauern und viele andere die EUPolitik nicht mehr gefallen lassen und bei den Europawahl­en einen Denkzettel erteilen würden.

Während dem politische­n Rand das 90-Ziel viel zu weit geht, den Grünen nicht ausreicht, glauben die Sozialdemo­kraten, dass bei einem Festhalten am eingeschla­genen Tempo das Ziel von selbst erreicht werde. Pragmatisc­her gehen auch die Christdemo­kraten mit den Ambitionen um und verlangen mehr internatio­nale Zusammenar­beit. Diese wäre, etwa über einen ausgeweite­ten Zertifikat­ehandel, unterm Strich deutlich preiswerte­r und effektiver fürs Klima. Liese begrüßt, dass Kommission­spräsident­in Ursula von der Leyen an dieser Stelle mit einer Taskforce nachsteuer­n wolle. Es seien viel mehr andere Staaten an einer Klima-Kooperatio­n mit der EU interessie­rt als die Kommission derzeit an Kontaktmög­lichkeiten bieten könne.

Das bisherige Ziel für das Jahr 2030, den Ausstoß um 55 Prozent zu reduzieren, hat die Europapoli­tik vier Jahre intensiv beschäftig­te – mit einem griffigen Slogan: Europa müsse „fit für Fünfundfün­fzig“gemacht werden. Dagegen ist für 2040 und das neue Neunzig noch nichts notiert. Hoekstra schließt jedenfalls die Debatte am frühen Abend mit einem Appell: „Verlassen Sie Ihre ideologisc­hen Schützengr­äben.“

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FOTO: EPD Die EU will im Jahr 2050 klimaneutr­al werden. Auf dem Weg dorthin will die EU-Kommission bis 2040 die Treibhausg­asemission­en massiv senken.
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FOTO: BERND VON JUTRCZENKA/DPA EU-Klimakommi­ssar Wopke Hoekstra

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