Zwei Arten von Opfern
Die Soziologen Manning und Campbell haben unsere Kultur als Opferkultur bezeichnet. Gemeint ist das merkwürdige Phänomen, dass Menschen, die Sympathie erregen wollen, keine Heldengeschichten mehr erzählen, sondern Geschichten von Leid und Diskriminierung. Wie etwa der Sänger Gil Ofarim, der die diskriminierende Aussage eines Hotelangestellten wegen einer Kette mit David-Stern erfand. Das Opfer, schreibt Daniele Giglioli, ist der Held unserer Zeit. (Allerdings nur bei Erwachsenen – in der Schule ist „Du Opfer“nicht bewundernd gemeint.) Wie wurde aus dem Opfer ein Held? Schon vor 35 Jahren diagnostizierte der US-Essayist Joseph Epstein eine zunehmende Heroisierung des Opfers in den USA unter dem Einfluss der schwarzen Bürgerrechtsbewegung. Martin Luther King sah sich jedoch nicht als hilfloses Opfer, sondern als Kämpfer für eine gerechte Sache.
Seine Strategie des gewaltfreien Widerstands orientierte sich am Vorbild Gandhis: Man ging bewusst das Risiko ein, Opfer von Polizeigewalt zu werden, wenn man protestierte. Was den protestierenden schwarzen Bürgerrechtlern ihre besondere Würde verlieh und Bewunderung auslöste, war nicht ihre Hilflosigkeit, sondern ihre Risikobereitschaft, ihre Leidensfähigkeit und ihr Durchhaltevermögen. Das wurde als moralische Überlegenheit gegenüber den Befürwortern der Rassentrennung empfunden und hat die Kultur verändert.
Heute ist es jedoch nicht mehr das heroische Opfer, das Mitgefühl und Respekt hervorruft. Wie der
Fall Ofarim zeigt, gilt die Solidarität heute dem passiven Opfer: Menschen, die von anderen zu Opfern gemacht werden, und zwar aufgrund einer persönlichen Eigenschaft, auf die sie keinen Einfluss haben: Jüdin zu sein, eine Frau zu sein oder schwul zu sein. Zeigt sich hier ein Wandel im Menschenbild? Dass wir uns heute nicht mehr in erster Linie als Welt-gestaltende Wesen sehen, sondern am liebsten für gar nichts verantwortlich sein wollen? Sodass immer die anderen, mit denen wir uns nicht identifizieren, die Schuldigen sind: die Täter?