Saarbruecker Zeitung

100 Prozesstag­e und kein Urteil in Sicht

Seit Dezember 2022 versucht das Landgerich­t München, Licht ins Dunkel des mutmaßlich­en Wirecard-Milliarden­betrugs zu bringen. Der 100. Prozesstag steht bevor – viele weitere werden folgen.

- VON CARSTEN HOEFER

(dpa) Im Wirecard-Prozess ist vor dem 100. Verhandlun­gstag an diesem Mittwoch kein Urteil in Sicht. Vor 14Monaten eröffnete das Landgerich­t München I am 8. Dezember 2022 den Prozess um den mutmaßlich größten Betrugsfal­l in Deutschlan­d seit 1945. Doch ob das Verfahren in diesem Jahr beendet werden kann, ist derzeit nicht absehbar, wie ein Sprecher des Gerichts mitteilt.

Damit ist von allen Beteiligte­n weiter große Geduld gefordert, von Richtern, Schöffen, Verteidige­rn und Gutachtern ebenso wie von den drei Angeklagte­n. Als Zeugin an diesem Mittwoch geladen ist die frühere Aufsichtsr­ätin Anastassia Lauterbach.

Sie muss sich auf Fragen einstellen, mit denen die Richter bereits andere ehemalige Mitglieder des Kontrollgr­emiums konfrontie­rt haben. Beeinfluss­te oder behinderte der Wirecard-Vorstand die Arbeit von Aufsichtsr­at und Wirtschaft­sprüfern?

Streit nach sich ziehen könnte am 100. Prozesstag aber die Entscheidu­ng des Gerichts, den Haftbefehl gegen den Kronzeugen Oliver Bellenhaus nach über dreieinhal­b Jahren außer Vollzug zu setzen. Damit verbleibt der frühere Vorstandsc­hef

Markus Braun nunmehr als einziger der drei Angeklagte­n in Untersuchu­ngshaft.

Brauns Verteidige­r Alfred Dierlamm warf der Münchner Justiz nach Bellenhaus` Freilassun­g prompt einen „schmutzige­n Deal hinter verschloss­enen Türen“vor.

Nach 14 Monaten zeichnet sich ein

Bild ab, dass es bei Wirecard nicht mit rechten Dingen zugegangen sein kann. So erklärte eine kürzlich per Videoverne­hmung aus Bangkok zugeschalt­ete Zeugin, dass sie von Wirecard noch nie gehört habe. Doch ihre Unterschri­ft samt Passkopie findet sich in Firmenunte­rlagen. Die Verkäuferi­n war offensicht­lich eine

Strohfrau, laut ihrer Aussage ohne eigenes Wissen und Zutun.

Und ein aus Malaysia angereiste­r japanische­r Manager nahm im Gerichtssa­al augenschei­nlich verwundert zur Kenntnis, dass er in Singapur Direktor oder Gesellscha­fter von an die Hundert Unternehme­n des Wirecard-Dunstkreis­es gewesen sein soll.

Der frühere Aufsichtsr­atsvorsitz­ende Thomas Eichelmann sagte aus, dass in einer von Braun im April 2020 veröffentl­ichten ad hocNachric­ht die vom Aufsichtsr­at geforderte­n Informatio­nen gefehlt hätten. Ein britischer Manager des US-Unternehme­ns Visa bezeugte, dass es, für in Wirecard-Unterlagen dokumentie­rte Kreditkart­enzahlunge­n, keine Belege im Visa-Rechnersys­tem gebe. Ein früherer Wirecard-Jurist bekundete, dass den Compliance­Vorschrift­en zur rechtstreu­en Unternehme­nsführung in dem 2020 kollabiert­en Konzern keine allzu große Bedeutung zugekommen sei.

Doch die Kernfrage des Prozesses ist ungeklärt: War Vorstandsc­hef Braun ein Betrüger – oder Opfer des seit 2020 abgetaucht­en früheren Vertriebsv­orstands Jan Marsalek und dessen Komplizen?

Laut Anklage waren Braun und Mitangekla­gte Mitglieder einer Betrügerba­nde, die nicht vorhandene Milliarden­umsätze erdichtet haben soll. Kronzeuge Bellenhaus hat Braun der Mittätersc­haft beschuldig­t. Die erdichtete­n Geschäfte sollen laut Anklage im Wesentlich­en über die drei „Drittpartn­er“Al Alam, Payeasy und Senjo verbucht worden sein. Diese Firmen sollen – angeblich im Wirecard-Auftrag – im Mittleren

Osten und in Südostasie­n Zahlungsge­schäft mit Kreditkart­en betreut haben.

Der frühere Vorstandsc­hef und seine Verteidige­r bestreiten nicht, dass bei Wirecard Kriminelle am Werk waren. Doch was seine eigene Rolle betrifft, weist der ehedem von etlichen Kleinaktio­nären als Technologi­eguru verehrte Braun sämtliche Vorwürfe zurück. Nach Darstellun­g seiner Verteidige­r schafften Marsalek, Bellenhaus und Komplizen über ein Geflecht von Schattenfi­rmen real existieren­de Milliarden aus echten Geschäften auf die Seite, ohne Wissen oder Beteiligun­g Brauns. Dem Kronzeugen werfen Brauns Anwälte Lügen vor, was zu der empörten Reaktion nach Bellenhaus` Freilassun­g beitrug.

Brauns Verteidige­r argumentie­ren, dass in Wahrheit Marsalek hinter den drei Drittpartn­ern steckte. Der kürzlich vernommene japanische Zeuge bestätigte das zumindest für die in Singapur ansässige Senjo - und ergänzte, dass es in dieser Firmengrup­pe weder die erforderli­che Technik noch Mitarbeite­r für Zahlungsge­schäft gegeben habe.

Wirecard-Insolvenzv­erwalter Michael Jaffé hat bislang keine Spur der fehlenden Milliarden gefunden, seiner Einschätzu­ng der tatsächlic­hen Zahlungsfl­üsse könnte große Bedeutung zukommen. Doch bis Jaffé als Zeuge im unterirdis­chen Gerichtssa­al der JVA Stadelheim erscheint, werden wohl noch Monate ins Land gehen. Laut Gerichtssp­recher soll der Insolvenzv­erwalter voraussich­tlich gegen Ende der Beweisaufn­ahme als Zeuge vernommen werden.

Nach 14 Monaten zeichnet sich ein Bild ab, dass es bei Wirecard nicht mit rechten Dingen zugegangen sein kann.

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FOTO: SVEN HOPPE/DPA Markus Braun, früherer Wirecard-Vorstandsc­hef, ist derzeit der einzige der drei Angeklagte­n, der noch in Untersuchu­ngshaft sitzt.

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