Der Nahost-Konflikt erreicht auch deutsche Unis
Es ist eine Entwicklung, wie sie seit den Terrorangriffen der Hamas auf Israel an vielen Universitäten zu sehen ist. Sie betrifft auch die Berliner FU: Antisemitismus und eindimensionale Debatten über den Gazakrieg heizen dort die Stimmung an. In Berlin k
Angemeldet waren für die Palästina-Solidaritätsdemonstration vor der Freien Universität Berlin 100 Teilnehmer. Am Ende kommen 80. Umgeben von fast ebenso viel Polizei und Presse protestieren sie gegen „Lügen und Heuchelei“im Umgang mit dem Krieg Israels in Gaza. „Deutschland finanziert – Israel bombardiert“, rufen sie. Israel werfen sie „Genozid“und „Apartheid“vor.
Etwa 20 Gegendemonstranten mit Israel-Fahnen sind ebenfalls versammelt. Ein Berliner GrünenPolitiker ist unter ihnen. Er wirft den propalästinensischen Organisatoren vor, Israel das Existenzrecht abzusprechen. Aufgerufen hat ein „Palästinakommitee FU Berlin“. Auf dem Plakat ist das Territorium von Israel und den palästinensischen Gebieten zu sehen, als ein einziges Land im Muster des Palästinensertuches.
Die Demonstration vor der großen Mensa ereignet sich wenige Tage, nachdem ein jüdischer FU-Student mit Knochenbrüchen im Gesicht ins Krankenhaus gekommen war. Der 30-jährige Lahav Shapira soll am Wochenende von einem 23 Jahre alten propalästinensischen Kommilitonen im Ausgehviertel in Berlin-Mitte geschlagen und getreten worden sein. Die FU distanzierte sich vorab von der Protestveranstaltung und stellte nach eigenen Angaben Strafanzeige, aufgrund von Inhalten von Plakaten mit dem Aufruf. Die Universität steht seit dem mutmaßlich antisemitischen Übergriff wieder einmal massiv in der Kritik. Wie bei vielen anderen Hochschulen im In- und Ausland auch, wird der FU vorgeworfen, gegenüber Antisemitismus, Übergriffen und propalästinensischen Demos zu tolerant zu sein. So soll sich der Tatverdächtige im Fall Shapira schon im Dezember an einer Hörsaalbesetzung propalästinensischer Aktivisten an der FU beteiligt haben.
Das Opfer ist Enkel eines der Ermordeten des Olympia-Attentats von München 1972 und Bruder des Comedians Shahak Shapira. Dieser schrieb vor einigen Tagen auf X: „Es gab keinerlei politische Debatte. Er wurde vom Angreifer in der Bar erkannt, dieser ist ihm und seiner Begleitung gefolgt, hat sie aggressiv angesprochen und ihm dann unangekündigt ins Gesicht geschlagen.“Und er brachte das klar in Verbindung mit dem politischen Engagement seines Bruders in Berlin seit den Hamas-Terrorangriffen auf Israel am 7. Oktober 2023: „Bei der
Art und Weise, wie er in den letzten Monaten für seinen gerechten oder ungerechten Widerstand in der FU im Internet diffamiert und „markiert“wurde, war diese Folge fast unvermeidbar und ich habe das von Anfang an befürchtet.“
Von mehreren Seiten, unter anderem vom Zentralrat der Juden, wird inzwischen eine Exmatrikulation des Tatverdächtigen gefordert. Laut FU ist dies in Berlin zwar aus rechtlichen Gründen in solchen Fällen nicht möglich. FU-Präsident Günter Ziegler bietet der Politik aber Gespräche über mögliche Nachschärfungen an, damit künftig besser auf extreme Fälle reagiert werden kann.
Die Universität hat inzwischen auch eine Veranstaltungsreihe zum Nahost-Konflikt gestartet. Zum Auftakt hielten Ende Januar der israelisch-deutsche Historiker und Pädagoge Meron Mendel und seine Ehefrau, Politologin Saba-Nur Cheema, einen Vortrag. „Es war sehr klar zu erkennen, dass viele im Hörsaal saßen, die entweder auf der propalästinensischen Seite waren oder auf der pro-israelischen Seite“, beschreibt er im Gespräch mit unserer Redaktion die Situation. „Die Menschen im Hörsaal haben sich auch nach dieser politischen Positionierung hingesetzt. Das zeigt, wie angespannt die Stimmung ist. Es gab aber keine aggressiven Äußerungen, geschweige denn Gewalt.“
Mendel, der auch Direktor der Bildungsstätte Anne Frank in Frankfurt am Main ist, sieht an den Universitä
„Die Mobilisierung und Politisierung erfolgt in sozialen Medien, wo auch gezielt antisemitische Erzählungen, Hass und Desinformation verbreitet werden.“Meron Mendel Direktor der Bildungsstätte Anne Frank
ten „ein hohes Maß an Hilflosigkeit“im Umgang mit der aufgeheizten Stimmung auf dem Campus. „Aber wenn man dazu wirklich die Kommunikation mit Studierenden sucht, liegt die Zuständigkeit nicht nur bei der Antidiskriminierungsstelle der Universität, sondern auch bei den Professorinnen und Professoren. Sie können ihre Beziehungen und ihre Kenntnisse nutzen, um das anzusprechen“, sagt Mendel.
Seiner Einschätzung nach sitzt das Problem aber noch tiefer: „Die Mobilisierung und Politisierung erfolgt in
sozialen Medien, wo auch gezielt antisemitische Erzählungen, Hass und Desinformation verbreitet werden.“Er sieht bei vielen einen eindimensionalen Blick auf den Nahostkonflikt. „Influencer mit mehr als einer Million Follower erklären 100 Jahre Nahostkonflikt in nicht einmal einer Minute. Das ist auch eine Art von politischer Bildung, aber die falsche politische Bildung.“Gleichzeitig sei der Nahostkonflikt eine Projektionsfläche. „Es ist ein identitätsstiftender Konflikt auch für Menschen, die mit der Region gar nichts zu tun haben.“
So sei er zum Beispiel „der Klebstoff für migrantische oder muslimische Gruppen, die ansonsten sehr verschieden sind“. Zugleich sieht er bei seinen Vorträgen, dass es viele Leute gibt, „die vielleicht nicht so laut sind, aber interessiert an Zwischentönen und Differenzierung“. Er betont: „Bei den Demonstrationen gegen AfD haben wir gesehen, die schweigende Mehrheit kann auch laut werden und Haltung zeigen. Vielleicht ist jetzt auch die Zeit, dass in diesem Konflikt die schweigende Mehrheit lauter wird“, sagt Mendel.