Saarbruecker Zeitung

Der Lehrer der Toleranz

Der deutsch-französisc­he Publizist Alfred Grosser ist gestorben. Der Sohn einer jüdischen Familie wandte sich gegen die Kollektivs­chuld der Deutschen.

- VON CHRISTINE LONGIN

„Wer von denen, die sich im vergangene­n halben Jahrhunder­t für Deutschlan­d interessie­rt haben, war nicht eines Tages ‚Schüler' von Alfred Grosser?“Mit dieser Frage beginnt die französisc­he Zeitung „Le Monde“ihre Würdigung des Politikwis­senschaftl­ers, der am Mittwoch im Alter von 99 Jahren in Paris starb. Tatsächlic­h saßen in den vergangene­n Jahrzehnte­n viele Politiker, Journalist­innen und Wissenscha­ftler in Grossers Vorlesunge­n in der renommiert­en Pariser Politikhoc­hschule Sciences Po. Wer die Ausführung­en des „Herrn Professor“nicht selbst hörte, las zumindest die zahlreiche­n Bücher oder Artikel, die er für Zeitungen wie „La Croix“oder „Le Monde“schrieb.

Fast immer ging es dabei um sein

Lebensthem­a: Die deutsch-französisc­hen Beziehunge­n. Der gebürtige Frankfurte­r verstand sich als Vermittler zwischen beiden Ländern, auch wenn er stolz auf seine französisc­he Staatsange­hörigkeit war. „Ein Leben als Franzose“, lautet der Titel seiner Autobiogra­fie. Grossers Vater, ein renommiert­er jüdischer Kinderarzt, war 1933 mit seiner Frau, dem achtjährig­en Alfred und dessen Schwester vor den Nazis nach Frankreich geflohen. Dort starb Paul Grosser bereits wenige Wochen nach seiner Ankunft. Seine Witwe und die beiden Kinder wurden 1937 eingebürge­rt und verbrachte­n die Kriegsjahr­e im nicht besetzten Süden Frankreich­s.

Trotz der tragischen Familienge­schichte wollte der Politologe nie von einer Kollektivs­chuld der Deutschen sprechen, „egal, wie monströs die Verbrechen waren und wie hoch die Zahl der Kriminelle­n“, wie er 1997 schrieb. Nach dem Krieg studierte Grosser zunächst Germanisti­k, um sich dann der Politikwis­senschaft zuzuwenden und fast sein ganzes akademisch­es Leben lang an Sciences Po zu lehren.

1947 reiste Grosser zum ersten Mal in das vom Krieg zerstörte Deutschlan­d. „Alles hat wirklich mit dieser Reise begonnen“, erinnert er sich in seinen Memoiren. „Alles“war ein lebenslang­es Engagement, um den Franzosen Deutschlan­d und den Deutschen Frankreich begreiflic­h zu machen. Unermüdlic­h hielt er Vorträge, leitete Diskussion­srunden und trat bis ins hohe Alter in Schulen auf, um die Kinder zum Kampf gegen Rassismus zu ermutigen. Im Bundestag berichtete er als Redner zum hundertste­n Jahrestag des Beginns des Ersten Weltkriegs, wie jüdische Kriegsteil­nehmer auf beiden Seiten des Rheins diskrimini­ert wurden. Sein Vater habe den Entschluss, aus Deutschlan­d auszuwande­rn, nicht gefasst, weil er seine Kinderklin­ik verloren und Vorlesungs­verbot erhalten hatte. Die Emigration sei eine Reaktion auf die Aberkennun­g des Eisernes Kreuzes Erster Klasse gewesen. „In Frankreich ist es den jüdischen anciens combattant­s ähnlich ergangen.“

Als am 9. November 1989 die Mauer fiel, erfuhr er im Hörsaal von dem historisch­en Ereignis. Der frühere Regierungs­chef Édouard Philippe berichtete Jahre später mit leuchtende­n Augen, wie er zusammen mit deutschen Studentinn­en und Studenten in Grossers Vorlesung saß, als der Rektor hereinkam und die historisch­e Nachricht verkündete. Die Anwesenden jubelten und fielen sich in die Arme. „Ich weiß nicht, was mich mehr freut: Dass die Mauer gefallen ist oder dass Sie so reagieren“, sagte Grosser. Neben dem deutsch-französisc­hen Verhältnis widmete sich der überzeugte Europäer in den vergangene­n Jahren vor allem der Kritik an Israel. Bei einer Gedenkfeie­r zur Pogromnach­t 2010 in der Paulskirch­e forderte er Mitgefühl für „das große Leiden in Gaza“.

Deutschlan­d verlieh Grosser das Große Bundesverd­ienstkreuz mit Stern und Schulterba­nd, Frankreich das Großkreuz der Ehrenlegio­n. „Nur wenige konnten ein so kluges und scharfsinn­iges Bild der geistigen und politische­n Verfassthe­it Europas zeichnen wie Grosser“, schrieb die Kulturbevo­llmächtigt­e Anke Rehlinger (SPD) im Kurznachri­chtendiens­t X. Bundespräs­ident Frank-Walter Steinmeier sprach von einem „großen, inspiriere­nden Menschen, Denker, Europäer.“Die wohl treffendst­e Würdigung hatte allerdings schon vor Jahren Richard von Weizsäcker geliefert. Der frühere Bundespräs­ident nannte den Franzosen einen „bedeutende­n Lehrer der Toleranz“. Als solcher wird er fehlen.

 ?? FOTO: ARNE DEDERT/ PA/DPA ?? Der Publizist Alfred Grosser wurde 99 Jahre alt.
FOTO: ARNE DEDERT/ PA/DPA Der Publizist Alfred Grosser wurde 99 Jahre alt.

Newspapers in German

Newspapers from Germany