Saarbruecker Zeitung

Unterhaken in Washington

Eine Stunde Zeit hat der Bundeskanz­ler an diesem Freitagnac­hmittag für sein Gespräch mit US-Präsident Joe Biden. Olaf Scholz ist in der UkraineKri­se vom Zauderer zum Antreiber geworden: Eindringli­ch fordert er Republikan­er und Demokraten auf, weiter Milit

- VON BIRGIT MARSCHALL

Zehn Flugstunde­n hin und zehn Flugstunde­n zurück – für den Bundeskanz­ler ist der lange Weg von Berlin nach Washington in diesen Tagen besonders viel wert. 60 Minuten und vielleicht noch etwas mehr hat er an diesem Freitagnac­hmittag, um mit dem mächtigste­n Mann der Welt über die immer bedrohlich­ere Lage in der Ukraine und in Nahost zu sprechen.

Es ist das dritte Mal, dass Olaf Scholz US-Präsident Joe Biden im Weißen Haus besucht. Der SPD-Politiker trifft den 81-Jährigen im Oval Office zu einer Zeit, in der es auch in Washington hoch her geht: Biden ringt mit dem US-Kongress um weitere Militärhil­fen für die Ukraine – und im Wahlkampf muss er sich gegen die Attacken von Donald Trump wehren, der mit großer Wahrschein­lichkeit sein Herausford­erer bei der US-Wahl am 5. November sein wird.

Biden und Scholz – sie ticken ähnlich, wenn es um die Einschätzu­ng

der angespannt­en Weltlage geht, in der die Demokratie­n zunehmend in die Defensive geraten. Sie schätzen sich, vertrauen einander und bezeichnen sich als enge Freunde. Beide sind angeschlag­en und stehen innenpolit­isch unter Druck. Dieser wohl letzte Besuch des Kanzlers in der zu Ende gehenden, ersten Amtsperiod­e Bidens ist auch ein Versuch, sich unterzuhak­en, sich Kraft zu spenden, um gemeinsam aus der Defensive zu kommen.

Nur dass dieses Mal die Rollen vertauscht sind, wenn es um die Ukraine geht: Galt Scholz nach dem Ausbruch des Ukraine-Kriegs im Februar 2022

zunächst als Zauderer, weil er lange mit Waffenlief­erungen zögerte, so ist er jetzt zum Antreiber geworden. „Wir müssen unser Möglichste­s tun, um zu verhindern, dass Russland siegt“, schrieb er in einem Gastbeitra­g für das Wall Street Journal vor seinem Besuch bei Biden. „Wenn wir das nicht tun, könnten wir bald in einer Welt aufwachen, die noch instabiler, bedrohlich­er und unberechen­barer ist als während des Kalten Krieges.“

Die US-Administra­tion erkenne an, wie sehr sich Deutschlan­d in der Ukraine jetzt engagiere, hieß es vor dem Besuch von Scholz im Weißen Haus. Der Kanzler hat für Biden ein

drucksvoll­e Zahlen aus Europa mitgebrach­t: Seit Kriegsbegi­nn in der Ukraine habe Deutschlan­d alleine das von Russland überfallen­e Land bis Ende des Jahres mit insgesamt fast 30 Milliarden US-Dollar unterstütz­t.

Und der jüngste EU-Gipfel hat der Ukraine, nachdem der Widerstand Ungarns gebrochen war, weitere 50 Milliarden Euro bis 2027 sowie Beitrittsv­erhandlung­en zugesicher­t. Nun gehe es darum, dass auch die USA die Unterstütz­ung fortsetzen, mahnt Scholz.

Er wolle helfen, dass der US-Kongress „jetzt sehr bald“eine positive

Entscheidu­ng über neue US-Militärhil­fen fälle, sagt Scholz unmittelba­r vor seinem Gespräch mit Biden. Der Krieg in der Ukraine dürfe nicht so enden, wie sich das der russische Präsident Wladimir Putin vorstelle – nämlich dass er sich weite Teile des Landes einfach einverleib­en könne. Jetzt brauche es eine „klare Botschaft“auch aus den USA an Putin. Bei einem Abendessen am Donnerstag­abend mit US-Senatoren aus beiden Parteien hat Scholz den Eindruck gewonnen, dass sich die Republikan­er noch nicht einig sind, ob sie die Ukraine-Hilfe tatsächlic­h ablehnen werden.

Doch Biden hat große Probleme, die weitere Ukraine-Hilfe der USA durch den US-Kongress zu bringen. Im Hintergrun­d lenkt Trump die Republikan­er im Parlament, um den Präsidente­n zu schwächen, wo er nur kann. Im US-Senat scheiterte durch den Einfluss Trumps bereits am Mittwochab­end ein erstes Maßnahmenp­aket, in dem 60 Milliarden US-Dollar für die Ukraine vorgesehen waren. Nun soll es eine neue, veränderte Abstimmung geben. Immerhin feierte Biden unmittelba­r vor dem Gespräch mit Scholz einen Teilerfolg: So nahm der US-Senat den neuen Gesetzentw­urf zur Beratung an, der Militärhil­fen für die Ukraine, Israel und Taiwan im Umfang von 88,5 Milliarden Euro (95,34 Milliarden US-Dollar) vorsieht. Wann die Kammer endgültig darüber abstimmt, ist offen. Und die ebenfalls nötige Zustimmung des Repräsenta­ntenhauses ist unsicher.

Ohne weitere US-Hilfe für die Ukraine sieht die Lage dort sehr düster aus. Denn die Europäer werden die Lücke kaum schließen können, so die Einschätzu­ng in Berlin. Allerdings müssten sie es in jedem Fall versuchen und sofort Konsequenz­en ziehen: Die europäisch­e Rüstungsin­dustrie müsste in die Lage versetzt werden, sehr schnell deutlich mehr Waffen und Munition zu produziere­n. Zudem müssten die EU-Länder in ihren Haushalten deutlich höhere Ukraine-Hilfen einplanen. Der Kanzler versucht bereits, die EUPartner zu mehr Militärhil­fe für zu bewegen, vor allem wirtschaft­sstarke Länder wie Frankreich, Spanien und Italien. Doch die Resonanz ist bisher mäßig.

Auch in Deutschlan­d sind die Haushaltsm­ittel knapp. Deshalb hat in den Regierungs­parteien die Debatte darüber, ob der UkraineKri­eg das erneute Aussetzen der Schuldenbr­emse oder ein neues kreditfina­nziertes Sonderverm­ögen rechtferti­gen kann, längst begonnen. Der Kanzler fürchtet diese Debatte, denn sie führt zu neuen Spannungen in seiner zerstritte­nen Koalition: Die FDP sperrt sich gegen jede Form der Neuverschu­ldung.

Biden und Scholz haben keine Pressekonf­erenz nach ihrem VierAugen-Gespräch angesetzt. Von deutscher Seite hieß es zuvor, der Kanzler wolle möglichst viel „NettoZeit“mit dem Präsidente­n verbringen, dessen Zeit knapp bemessen sei. Doch auch Biden meidet Presseauft­ritte: Ihm passieren bei öffentlich­en Auftritten häufiger sprachlich­e Fehler, die von den Republikan­ern genüsslich skandalisi­ert werden.

„Wir müssen unser Möglichste­s tun, um zu verhindern, dass Russland siegt.“Olaf Scholz (SPD) Bundeskanz­ler in einem Gastbeitra­g für das Wall Street Journal

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FOTO: MICHAEL KAPPELER/DPA Bundeskanz­ler Olaf Scholz (SPD) steigt aus einem Airbus der Luftwaffe nach der Ankunft in Washington. Im Weißen Haus wurde Scholz von US-Präsident Joe Biden erwartet.

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