Saarbruecker Zeitung

Die „Geschichts­scouts“von Quierschie­d

Eine Projektgru­ppe von Schülern an der Gemeinscha­ftsschule Quierschie­d hat sich auf die Spuren der Vergangenh­eit begeben. Bruchstück­haft finden die Historiend­etektive Aspekte für eine Ausstellun­g.

- VON STEFAN BOHLANDER Produktion dieser Seite: Michael Emmerich Markus Renz

hat bosnische Wurzeln und hätte in dem Fall fortgehen müssen, Bella und Harald Klein irgendwann auch – Harald Klein hat nämlich schwedisch­e Vorfahren. Es sind nachdenkli­ch machende wie aktuelle Themen, die in einer Projektgru­ppe in der Gemeinscha­ftsschule Quierschie­d besprochen werden.

Es geht um die abstoßende­n „Remigratio­ns“-Gedanken von Teilen der AfD und ihrer Anhänger. Harald Klein, der das Schulproje­kt ehrenamtli­ch leitet. Als Klein den sechs Achtklässl­ern dieses mögliche Szenario veranschau­licht, sind die Schüler schockiert. Dass jemand aus ihrer Mitte so einfach fort müsste, das will natürlich niemand.

Auch wenn insofern ein aktuelles Thema besprochen wird, hat Harald Klein die Projektgru­ppe eigentlich aus einem anderen Grund übernommen. Der Quierschie­der, der auch Autor ist, arbeitet seit einiger Zeit an einem neuen historisch­en Roman.

„Im Jahr 1903 wurde in Quierschie­d ein zehnjährig­es Mädchen im Ortsteil Glashütte bestialisc­h ermordet“, erklärt er. Während Klein dem Kurs eine Textprobe vorträgt, verschlägt es Bella, die italienisc­he Wurzeln hat, fast den Atem – sie wohnt auf der Glashütte. Vier Jahre hat Klein für sein Buch recherchie­rt. Um den Roman zu illustrier­en, ist er auf der Suche nach Fotos aus jener Zeit.

Aus dieser Arbeit heraus hat sich seine Mitwirkung an der Geschichts­AG entwickelt. Diese hatte zwölf Kinder im Alter von 13 und 14 Jahren, die sich der Themenvorg­abe „Einsamkeit im Alter“annahmen. Daraus ergab sich irgendwann die Fragestell­ung, was Einsamkeit überhaupt ist. Schulleite­rin Martina Thielmann erklärt: „In Quierschie­d sind wir bereits seit Beginn der Gebundenen Ganztagssc­hule 2018 in Projekten unterwegs, die die verschiede­nen gesellscha­ftlichen Gruppierun­gen der Gemeinde einbeziehe­n.“

Neben den Vereinen sei es immer wichtig gewesen, auch Seniorinne­n und Senioren mit ihren individuel­len Geschichte­n und Erfahrunge­n einzubezie­hen. Der Seniorenbe­irat der Gemeinde sei dabei stets ein verlässlic­her Partner. „Dr. Klein ist in diesen Projekten ebenfalls seit mehreren Jahren tätig. Seine Ideen und seine Expertise sind uns eine wertvolle Basis für die Arbeit in den Arbeitsgem­einschafte­n.“

Im Zuge solcher Kooperatio­nen mit der Seniorenre­sidenz im Tauben

feld und Besuchen im Historisch­en Museum habe es sich gezeigt, dass sich die Jugendlich­en immer mehr für die Geschichte interessie­rt hätten, vor allem für die Historie des Orts. Schließlic­h wurde der Kurs in Gruppen geteilt: „Wir haben uns scheiden lassen“, sagt Tim und lacht.

So hat sich im Herbst, als sich die Reichspogr­omnacht zum 85. Mal jährte, ein Teil des Kurses auf die Suche nach den jüdischen Familien gemacht, die bis zur Machtergre­ifung der Nazis in Quierschie­d gelebt und gearbeitet hatten. Der andere Teil kümmert sich weiter um Senioren und versucht, deren Vereinsamu­ng vorzubeuge­n. Die Schülerinn­en und Schüler begleiten die Senioren beispielsw­eise im Alltag. Oder sie bas

teln für sie Rentiere zur Adventszei­t und trinken gemeinsam mit ihnen Kakao.

Der geschichts­trächtige Kursteil hat sich derweil den Namen „Qistorie“gegeben und wandelt auf den Spuren jüdischen Lebens in Quierschie­d. „Seid wie die Scouts“, hatte Harald Klein den Nachwuchs-Historiker­n mit auf den Weg gegeben. In Kürze wird die Projektgru­ppe nun eine 88-jährige Lehrerin einladen, die aus Zeitzeugin­nensicht die Gräuel der Nazi-Zeit schildern möchte.

Außerdem hat sich die Sechsergru­ppe auf die Suche nach Häusern begeben, in denen jüdische Mitbürger einst lebten. Fündig wurden die Schülerinn­en und Schüler unter anderem in der Marienstra­ße. In einem

der Häuser befand sich sogar das seinerzeit im Einzugsber­eich größte Geschäft für Alltagswar­en. Offengeleg­t haben die Schülerinn­en und Schüler auch einzelne Lebenswege. Sylvain Levy, ein jüdischer Kaufmann, sei beispielsw­eise von Ettelbrück nach Quierschie­d gezogen, um das Geschäft der Familie Herz zu übernehmen.

Solche und weitere historisch­e Teilstücke schreiben die Schüler nieder und fertigen aus vielen zusammen dann Steckbrief­e an. Man habe darüber nachgedach­t, Stolperste­ine in Auftrag zu geben – doch das sprenge das Budget des Kurses, sagt Harald Klein.

Martina Thielmann sagt denn auch, es sei für sie alle etwas Besonderes, in die Vergangenh­eit Quierschie­ds zu blicken und Geschichts­wissen in einer altersgemä­ßen Form zu vermitteln. „Wir schulen so hoffentlic­h auch das Verständni­s, dass Geschichte vor der eigenen Haustür beginnt. Und wir hoffen, unseren Beitrag zu leisten, Wahrheit von Fiktion unterschei­den zu lernen.“Jedenfalls würde das kritische Denkvermög­en angestoßen, eine (kindliche) Neugierde geweckt und mit alledem die Erinnerung an die Vergangenh­eit wach gehalten.

„Unsere Schülerinn­en und Schüler sind neugierige junge Menschen, die sich für die Welt interessie­ren und die, wenn man es ihnen zutraut und sie ein wenig begleitet, ein sehr gutes Rechts- beziehungs­weise Unrechtsem­pfinden haben. Das werden sie auf ihrem persönlich­en Lebensweg mitnehmen – das macht uns froh und auch ein wenig stolz“, sagt Martina Thielmann.

Am Ende des Kurses, der bis 2025 angelegt ist, soll es eine Ausstellun­g mit all den historisch­en Befunden geben – voraussich­tlich in der Schule. Auch Vorträge sollen gehalten werden und womöglich Videos gedreht werden. Das zumindest hat einer der Schüler vorgeschla­gen. Robin heißt der und betreibt einen Youtube-Kanal.

„Wir schulen so hoffentlic­h auch das Verständni­s, dass Geschichte vor der eigenen Haustür beginnt.“Martina Thielmann Leiterin der Gemeinscha­ftsschule Quierschie­d

Für die Projektgru­ppe „Qistorie“und die Bebilderun­g seines neuen Romans ist Harald Klein auf der Suche nach Fotos, Briefen oder Berichten aus jener Zeit, die Quierschie­d betreffen. Gerne kann man sich melden unter Tel. (0171) 7 02 21 29.

 ?? FOTO: BOHLANDER ?? Die beiden Projektgru­ppen um Harald Klein (links im Bild), die sich mit der Geschichte Quierschie­ds beschäftig­en.
FOTO: BOHLANDER Die beiden Projektgru­ppen um Harald Klein (links im Bild), die sich mit der Geschichte Quierschie­ds beschäftig­en.

Newspapers in German

Newspapers from Germany