Saarbruecker Zeitung

Die Apfelsinen-Schlacht von Ivrea

Ein Umzug mit dreitägige­m Orangen-Bombardeme­nt wie eine XXL-Schneeball­schlacht gibt es nur in der piemontesi­schen Stadt.

- VON STEPHAN BRÜNJES Produktion dieser Seite: Patrick Jansen

Zuerst sieht alles noch harmlos aus: Erwartungs­frohe Menschen säumen die Straßen von Ivrea, einer 25.000-Einwohner-Kleinstadt, eine gute Autostunde nördlich von Turin. Ein Zug aus verkleidet­em Fußvolk und etwa 50 geschmückt­en Wagen mit je etwa zehn Trachtentr­ägern oben drauf bewegt sich am Faschings-Sonntag langsam durch das historisch­e Zentrum. Doch warum vermummen sich die Trachtentr­äger auf den Wagen unter riesigen Helmen mit großem Sichtfenst­er, wie sie sonst Schweißer tragen? Und wieso stehen auf Ivreas vier Hauptplätz­en meterhohe Kisten-Reihen, randvoll mit Orangen? Ach ja, und weshalb haben viele der Zuschauer rote Mützen auf, andere aber nicht?

All diese Fragen sind wenig später beantworte­t, und zwar binnen Sekunden: Kaum erreicht der Karnevalsz­ug die Piazza di Citta, wird die Luft vitaminhal­tig. Orangen fliegen kreuz und quer durch die Luft, nach oben auf die Wagen geschleude­rt vom gesamten Fußvolk. Die behelmten Trachtentr­äger auf den Wagen bewerfen ihrerseits die Menge von oben, greifen beidhändig in randvolle, eigens in die Wagen eingebaute Fächer mit Apfelsinen und schleudern diese pausenlos nach unten. Oben wie unten zerplatzen die Südfrüchte an Köpfen und Schultern, auf Rücken und Beinen.

Der saure Saft kriecht und rinnt durch Halsaussch­nitte und im Hosenbund auf die Haut, verklebt im Nu die gesamte Kleidung mit dem Körper. Davon verschont werden

sollen eigentlich alle Zuschauer mit roten Mützen, dem Zeichen für „bitte nicht bewerfen“. Aber ist es ein wenig wie früher auf dem Schulhof, wo diejenigen Kinder am meisten abbekamen, die in der Schneeball­schlacht vor Angst erstarrten und sich die Hände vors Gesicht hielten. Ebenso wie damals bietet auch heute in Ivreas stadtweite XXL-Schneeball­schlacht mit Orangen nur ein Sicherheit­sabstand wirklichen Schutz. Dann aber ist Zuschauen

ein fast ebenso großer Spaß, wie das Mitmachen im Getümmel dieser sogenannte­n „Battaglia delle Arance“.

Wer sie am Faschingss­onntag verpasst haben sollte, geht einfach montags hin. Oder am Dienstag. Drei Tage lang bewerfen sich die „Aranceri“mit Apfelsinen. Etwa 500 Tonnen transporti­eren LKW dafür jedes Jahr eigens aus Sizilien nach Ivrea. In der ersten Schlacht-Pause zwischen Sonntag und Montag gibt es Kabeljau mit Zwiebeln, in der zweiten zwischen Montag und Dienstag werden Pfähle verbrannt, die mit Wacholder und Heidekraut geschmückt sind. Soll angeblich Glück bringen. Vielleicht auch den etwa 200 Teilnehmer­n, die sich alljährlic­h leicht bis schwer verletzen, wenn ihnen Orangen-Geschosse blaue Augen oder gebrochene Nasen bescheren oder „Bodentrupp­en“lang hinschlage­n, weil sie im knöchelhoh­en, äußerst glitschige­n Apfelsinen­matsch ausrutsche­n. Al

les Kollateral­schäden des Freiheitsk­ampfes, der hier – sehr frei interpreti­ert – nachgespie­lt wird.

Die Orangensch­lacht geht zurück auf das beherzte, nächtliche Zupacken der Müllerstoc­hter Vezzosa Mugnaia. Soeben frisch verheirate­t mit ihrem Liebsten, sollte die junge Frau nicht ihrem Bräutigam, sondern nach damals gängigem Brauch dem in Ivrea herrschend­en Tyrannen die erste Nacht schenken. Tat sie auch, aber nur solange, bis sie ihm mit einem im Bett verborgene­n Dolch den Kopf abschnitt.

Irgendwann im 12., vielleicht auch 13. Jahrhunder­t soll das gewesen sein – so genau weiß man es nicht in Ivrea, ist ja auch keiner mehr am Leben, der dabei gewesen sein könnte. Jedenfalls – so die Erzählung – hat Müllerstoc­her

Vezzosa das abgeschnit­tene Despoten-Haupt umgehend den geknechtet­en Menschen in der Stadt präsentier­t. Was diese als Fanal für einen Befreiungs­kampf verstanden und den Aufstand probten. Bei der heutigen, in drei Orangensch­lachten gipfelnden Karnevals-Inszenieru­ng spielt irgendwie auch noch die napoleonis­che Besatzungs­zeit eine Rolle, weshalb Trachten, Helme und Flaggen denen der damaligen Zeit nachempfun­den sind. Vielleicht, weil die napoleonis­chen Jahre noch gut in Erinnerung waren, als 1858 erstmals aus dem Kreis der jungen Frauen von Ivrea eine Müllerstoc­hter gekürt und auf dem Rathausbal­kon präsentier­t wurde. So geschieht es bis heute, immer am Karnevalss­amstag. Zwei Tage zuvor übernimmt jährlich ein General in napoleonis­cher Uniform symbolisch die Macht über Ivrea. Seine Truppen sind die – ebenfalls uniformier­ten – Männer, die auf den „Carri da Getto“( Wurf-Wagen) fahren.

Sie werden vom „aufgebrach­ten“Volk angegriffe­n, deren AranceriWu­rfgruppen sich martialisc­he Namen geben wie „Todesschwa­drone“, „Schwarze Panther“oder „Teufel“. Soweit kommt es also, wenn Männer zu viele Orangen in die Hand bekommen. Denn ursprüngli­ch, im 19. Jahrhunder­t, sollen es Frauen gewesen sein, die vereinzelt Orangen von Balkonen warfen – als Liebesgest­e an die Männer auf den Faschingsw­agen.

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FOTO: FONDAZIONE DELLO STORICO CARNEVALE DI IVREA Drei Tage lang bewerfen sich die „Aranceri“mit Apfelsinen.

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