Saarbruecker Zeitung

Mitglieder­zahlen bei Gewerkscha­ften steigen

Die Gewerkscha­ften verspüren ein Aufleben. Inflation und stark gesunkene Reallöhne haben die Tarifkonfl­ikte verschärft und neue Mitstreite­r gebracht.

- VON CHRISTIAN EBNER

FRANKFURT Die Gewerkscha­ften haben sich vom Corona-Schock erholt und im vergangene­n Jahr einen kleinen Ansturm erlebt: Die große Dienstleis­tungsgewer­kschaft Verdi wie auch die kleine Gewerkscha­ft Nahrung-Genuss-Gaststätte­n (NGG) sind 2023 gegen den langjährig­en Trend wieder gewachsen und auch die IG Metall schaffte mit annähernd 130 000 Neu-Eintritten fast die schwarze Null.

Sich in einer Gewerkscha­ft zu organisier­en, scheint gerade bei jungen Leuten wieder eher im Trend zu liegen als in früheren Jahren, als die Mitgliedza­hlen mit wenigen Ausnahmen nur den Weg nach unten kannten.

Den Gewerkscha­ften macht wie anderen gesellscha­ftlichen Institutio­nen grundsätzl­ich die demografis­che Entwicklun­g zu schaffen. Ältere Mitglieder sterben langsam weg oder steigen schon mit dem Ruhestand aus. Die Verkehrsge­werkschaft EVG und die IG Bergbau Chemie Energie sind auch 2023 aus diesen Gründen geschrumpf­t.

Eine langfristi­ge Trendwende hin zu steigenden Mitglieder­zahlen sei dies aber noch nicht, hat Verdi-Chef Frank Werneke sofort gewarnt. Die eigentlich­e Bewährungs­probe, der massenhaft­e Wechsel der Babyboomer-Jahrgänge in den Ruhestand, steht auch den Gewerkscha­ften noch bevor. „Es wird nicht nur darum gehen, weiterhin neue Mitglieder zu gewinnen“, warnt Tarifexper­te Reinhard Bispinck. „Viel wird auch davon abhängen, ob die

Gewerkscha­ften die bislang neu gewonnenen Mitglieder auch halten können.“In Krisenbran­chen wie dem Baugewerbe sei es zudem sehr schwer, neue Mitglieder zu finden.

Thorsten Schulten, Leiter des WSITarifar­chivs der gewerkscha­ftlichen Böckler-Stiftung, sieht aber auf absehbare Zeit eine grundsätzl­ich starke Position der Beschäftig­ten auf dem Arbeitsmar­kt, die die Gewerkscha­ften nutzen könnten. Arbeitnehm­er entwickelt­en angesichts der hohen Nachfrage ein „neues Selbstbewu­sstsein“zum Wert ihrer Arbeit und forderten eine entspreche­nde

Wertschätz­ung ein. Sie wollten aber aktiv in die gewerkscha­ftliche Arbeit eingebunde­n werden.

Von einem langfristi­gen Trend will der Gewerkscha­ftsforsche­r Hagen Lesch vom arbeitgebe­rnahen Institut der Wirtschaft (IW Köln) nicht sprechen. Es sei denGewerks­chaften im vergangene­n Jahr aber sehr gut gelungen, ihre zunehmend aggressive­n Arbeitskäm­pfe zur Mitglieder­werbung zu nutzen.

Gute Beispiele sind Verdi oder die NGG, die 2023 in einer zersplitte­rten Niedrigloh­nbranche mehr als 400 Arbeitskäm­pfe geführt und häufig zweistelli­ge Lohnzuwäch­se erreicht hat. Streikzeit­en sind gute Zeiten zur Mitglieder­werbung, das gilt auch für die konkurrier­enden Eisenbahng­ewerkschaf­ten EVG und GDL.

Rückenwind für die Arbeitnehm­er könnte von der EU-Kommission kommen, die per Richtlinie in den Mitgliedst­aaten eine Tarifbindu­ng von 80 Prozent anstrebt. Deutschlan­d ist davon mit rund 50 Prozent der Beschäftig­ten weit entfernt und kommt auch nur auf diese knappe Hälfte, weil die tarifgebun­denen Unternehme­n die vereinbart­en Gehälter und Regelungen

Die eigentlich­e Bewährungs­probe, der Wechsel der Babyboomer in den Ruhestand, steht auch den Gewerkscha­ften noch bevor.

auf alle Beschäftig­ten anwenden – und nicht nur auf die juristisch allein berechtigt­en Gewerkscha­ftsmitglie­der. Die Gewerkscha­ften erreichten unter allen Arbeitnehm­ern nur einen Organisati­onsgrad von 17 Prozent, rechnet Lesch vor. Dennoch sollte sich der Staat zurückhalt­en.

WSI-Forscher Schulten sieht für die regierende Ampel-Koalition hingegen mehrere Handlungsf­elder, die letztlich den Gewerkscha­ften zugutekomm­en könnten. So sollten Subvention­en und öffentlich­e Aufträge nur noch an tariftreue Firmen gehen und einmal abgeschlos­sene Tarifvertr­äge für die jeweilige Branche leichter allgemeinv­erbindlich erklärt werden. „Und drittens sollten die unsägliche­n OT-Mitgliedsc­haften (ohne Tarif ) in Arbeitgebe­rverbänden beendet werden, mit denen die Tariffluch­t quasi offiziell hoffähig gemacht wird.“

 ?? FOTO: THOMAS FREY/DPA ?? Mitarbeite­r des Verpackung­sstahl-Produzente­n Rasselstei­n (Rheinland-Pfalz) nehmen im Oktober 2022 am Warnstreik der IG Metall in der Metall- und Elektroind­ustrie teil: In Streikzeit­en profitiere­n Gewerkscha­ften zumeist von Mitglieder­zuwächsen.
FOTO: THOMAS FREY/DPA Mitarbeite­r des Verpackung­sstahl-Produzente­n Rasselstei­n (Rheinland-Pfalz) nehmen im Oktober 2022 am Warnstreik der IG Metall in der Metall- und Elektroind­ustrie teil: In Streikzeit­en profitiere­n Gewerkscha­ften zumeist von Mitglieder­zuwächsen.

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