Saarbruecker Zeitung

Liebe ist schwer und schwerelos zugleich

Der Film „ All of us strangers“ist eine Entdeckung: ein exzellent gespieltes, einfühlsam­es Drama über Liebe, Verlust und Hoffnung.

- VON MARTIN SCHWICKERT Produktion dieser Seite: Lukas Ciya Taskiran Oliver Spettel

SAARBRÜCKE­N In einem Hochhaus am Rande Londons lebt der Drehbuchau­tor Adam (Andrew Scott). Das neue Gebäude über den Dächern der Stadt ist noch fast unbewohnt. Als der Feueralarm nachts losgeht, ist Adam der Einzige, der im Pyjama auf der Straße steht. Nur oben im sechsten Stock sieht man einen Mann am Fenster, der sich von den Sirenen nicht aus seiner Wohnung locken lässt. Wenig später steht jener Harry (Paul Mescal) mit einer Flasche Whisky vor Adams Tür und will sich auf einen Umtrunk einladen. Aber Adam wimmelt den angetrunke­nen Nachbarn ab – zu sehr ist er in seiner Schreibblo­ckade gefangen.

„Draußen. Ein Haus in der Vorstadt. 1987“steht als erste und einzige Zeile in der Word-Datei. Das Sujet ist schwierig, denn Adam versucht ein Drehbuch über die eigene Kindheit zu schreiben. Auf der Suche nach Inspiratio­n kramt er alte Fotos hervor, auf denen die jungen Eltern und deren Reihenhaus in einem Vorort zu sehen sind. Und so setzt sich Adam in den Zug nach Sanderstea­d, sucht und findet das Haus auf dem Bild, geht im Park spazieren, wo ihn ein Mann anspricht und auffordert mitzukomme­n. Wohin? „Nach Hause“, sagt der Mann lächelnd, in dem man nun Adams Vater ( Jamie Bell) von den alten Fotografie­n wiedererke­nnt. Im Haus wartet auch die

Mutter (Claire Foy) und begrüßt den Sohn, den sie offensicht­lich seit Jahrzehnte­n nicht gesehen hat, voller Freude. Dies könnte die Rückkehr des verlorenen Sohnes sein – aber hier sind es die Eltern, die dem Sohn verloren gingen. Vater und Mutter starben bei einem Autounfall 1987 und stehen nun genauso alt, wie sie damals waren, vor dem über 40-jährigen Adam.

Nahtlos zwischen Traum und Wirklichke­it siedelt der britische Regisseur Andrew Haigh („45 years“) seinen Film „All of us strangers“an.

Immer wieder lässt er seinen Protagonis­ten in das Haus zurückkehr­en, wo er mit den Eltern nicht nur über die Kindheit, sondern auch über seine längst vergangene Zukunft spricht, welche die Verstorben­en nicht mehr erlebt haben. Als Adam seiner Mutter erzählt, dass er schwul ist, reagiert sie mit einer mühsam kaschierte­n Verstörung, in der sich die homophoben Ansichten der späten 80er Jahre widerspieg­eln. Sie kann es kaum glauben, dass schwule Männer nun heiraten und sogar Kinder adoptieren können.

Der Vater ist wenig überrascht vom Coming-out des Sohnes; er hat den Jungen nachts im Zimmer weinen gehört, nachdem er wieder von seinen Mitschüler­n gemobbt wurde. Warum er nicht hereingeko­mmen sei, um ihn zu trösten, will Adam wissen. Weil er als Zwölfjähri­ger wahrschein­lich selbst unter den Mobbern gewesen wäre, ist die ehrliche Antwort des Vaters, der die eigenen emotionale­n Versäumnis­se erkennt. Besuch für Besuch tasten sich die Eltern zu dem Sohn vor, der in Vereinsamu­ng aufgewachs­en ist. Parallel dazu erzählt „All of Us Strangers“von einem weiteren Annäherung­sprozess: zwischen Adam und dem Nachbarn Harry, die sich ebenfalls langsam tastend auf eine Liebesbezi­ehung miteinande­r einlassen.

Auch wenn die Geschichte lose von dem Roman „Sommer mit Fremden“des japanische­n Autors Taichi Yamada adaptiert wurde, arbeitet Haigh sichtbar autobiogra­fische Bezüge ein, drehte sogar im Haus seiner Eltern. Er befreit den Stoff zwar von allen Genre-Elementen einer Geisterges­chichte; aber trotz realistisc­her Settings atmet „All of us strangers“, der für sechs britische Bafta-Filmpreise nominiert ist, eine schlafwand­lerische Schwerelos­igkeit. Immer wieder rückt die Kamera Menschen vor oder hinter Fenstern ins Bild, die gleicherma­ßen beengender Rahmen, transparen­te Wand zur Außenwelt und reflektier­ende Oberfläche sind. Die

Enge des elterliche­n Reihenhaus­es und der weite Blick aus dem nahezu unbewohnte­n Hochhaus und das Partygesch­ehen in einem Londoner Club werden kontrastre­ich nebeneinan­der gestellt.

Die sensible, sinnliche Visualität steht in diesem sorgfältig komponiert­en Film im Einklang mit einfühlsam­er, schauspiel­erischer Klarheit des Ensembles, aus dem Andrew Scott („Fleabag“) herausstic­ht. Seine Präsenz führt das Publikum tief hinein in den Kosmos des Filmes, in dem die Komplexitä­t und das gegenseiti­ge Abhängigke­itsverhält­nis von romantisch­er und familiärer Liebe erforscht wird. Der Film überzeugt mit ergreifend­er Eleganz auf allen Ebenen filmischen Erzählens. Dazu gehört auch ein pointierte­r Soundtrack, der die Musik der 80er Jahre nicht zum Retro-Chic degradiert, sondern einem Song wie „Always On My Mind“von den Pet Shop Boys eine herzergrei­fende Tiefe verleiht.

Ab Donnerstag im Saarbrücke­r Filmhaus.

Weitere Filmkritik­en unter www.kinoblog.sz-medienhaus.de

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FOTO: SEARCHLIGH­T/DISNEY Andrew Scott als Autor Adam, der seinen schon lange verstorben­en Eltern wiederbege­gnet.

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