Saarbruecker Zeitung

Die Mär von Putins Friedenswi­llen

Die Netzwerke sind voll von begeistert­en Russland-Verstehern, nachdem Putin im Interview erneut behauptete, dass es beinahe einen Friedenssc­hluss zwischen Russland und der Ukraine gegeben habe, den die Nato jedoch verhindert habe. Was stimmt daran?

- VON GREGOR MAYNTZ

Sahra Wagenknech­t war sich zwei Tage vor dem russischen Angriffskr­ieg gegen die Ukraine sicher, dass Russland an einem Einmarsch überhaupt kein Interesse habe. „Wir können heilfroh sein, dass Putin nicht so ist, wie er dargestell­t wird: ein durchgekna­llter Nationalis­t, der sich berauscht, Grenzen zu verschiebe­n.“Kurz geriet die damalige Vorzeigefr­au der Linken aus dem Tritt, als sich Putin selbst bei der Begründung des Angriffs als durchgekna­llter Nationalis­t gerierte, der sich berauschte, Grenzen zu verschiebe­n. Doch dann kam eine Erzählung auf, die die alten Dogmen vom rechten wie vom linken Rand wiederhers­tellte: Putin wolle den Frieden, die Nato den Krieg, und deshalb verblutete­n so viele unschuldig­e Ukrainerin­nen und Ukrainer.

Die Begeisteru­ng für das angeblich friedliebe­nde Russland erreicht nun in den einschlägi­gen Sozialen Medien nach dem Interview des Amerikaner­s Tucker Carlson mit Putin einen neuen Höhepunkt. Dieser bestätigte darin die angebliche Chance auf ein Kriegsende schon wenige Wochen nach Be

ginn. Bei Gesprächen in Istanbul habe man kurz vor einer Einigung über die Beendigung der Feindselig­keiten gestanden. Leider habe die Ukraine dann aber einen Rückzieher gemacht, bedauerte Putin.

In den Wortmeldun­gen von Akteuren aus dem Linken- wie dem AfD-Milieu ist die Erzählung seit dem Frühjahr 2022 Standard. In der Ukraine-Debatte des EU-Parlamente­s brachte Linken-Außenpolit­ikerin Özlem Demirel sie erst vor wenigen Tagen erneut auf den Punkt. „Tatsächlic­h gab es Verhandlun­gen um einen Waffenstil­lstand“, lautet Satz eins. In

Satz zwei wird ergänzt, dass auch der ukrainisch­e Präsident Wolodymyr Selenkyj dafür gewesen sei. Aber dann kommt Satz drei, demzufolge „die Nato gesagt“habe: „Kämpft, Jungs, kämpft weiter, ihr kämpft für unsere Freiheit.“

Es gibt auch eine ausführlic­here Version. Danach hat der damalige israelisch­e Premier Naftali Bennet Anfang März 2022 sowohl mit dem russischen als auch dem ukrainisch­en Präsidente­n gesprochen, um die Umrisse einer Verständig­ungslösung herauszufi­nden. In einem Fernsehint­erview sagte er anschlie

ßend auf die Frage, ob der Westen das blockiert habe: „Grundsätzl­ich ja. Sie haben es blockiert.“Er fügte bei dieser Gelegenhei­t allerdings bereits hinzu, dass es „zu früh“sei, um es „wirklich zu bewerten“. Und auf Twitter (heute X) stellte er anschließe­nd klar, er selbst sei nicht von einem konkreten Friedenspl­an, sondern lediglich von einer „50-Prozent-Friedensch­ance“ausgegange­n. Sowohl Kiew als auch London dementiert­en damals bereits, dass der britische Premier Boris Johnson den Abbruch der Verhandlun­gen gefordert habe. Doch die Erzählunge­n halten sich hartnäckig – und unterschla­gen regelmäßig die Relativier­ungen und Dementis. Die immer wieder damit konfrontie­rte Nato kann zudem nichts dementiere­n, da sie bei den Gesprächen gar nicht dabei war.

Wie also war es wirklich? Es gab Gespräche am 28. Februar im belarussis­chen Gomel, gefolgt von weiteren Unterredun­gen am 3. und 7. März. Die dabei unterbreit­eten russischen Forderunge­n bezogen sich auf eine sofortige Niederlegu­ng aller Waffen durch die Ukraine, eine Anerkennun­g der Krim als russisches Gebiet und der Gebiete Donezk und Luhansk als unabhängig sowie eine „Entnazifiz­ierung“und „Entmilitar­isierung“der Ukraine. Mit anderen Worten: eine komplette Kapitulati­on mit der Einrichtun­g einer Russland genehmen Regierung.

Am 10. März trafen sich dann der russische und der ukrainisch­e Außenminis­ter in Ankara. Ein Ergebnis für eine weitere Konferenz am 29. März in Istanbul war dann ein Papier, das als Grundlage für detaillier­te Verhandlun­gen hätte dienen können. Nun machte die Ukraine ihrerseits Zugeständn­isse und verzichtet­e auf die Forderung nach einem Rückzug aller russischen Truppen als Bedingung für Verhandlun­gen. Sie erhob jedoch zwei Punkte zur Bedingung für eine Verständig­ung. Erstens solle der Status der Krim innerhalb von 15 Jahren geklärt werden. Und zweitens benötige die Ukraine Sicherheit­sgarantien westlicher Staaten, die dem Beistandsa­rtikel der Nato ähnelten. Denn was Russlands Garantien wert seien, zeige der Bruch aller Verträge und Zusicherun­gen durch den Angriffskr­ieg.

Schon am nächsten Tag, so die weiteren Untersuchu­ngen der Wissenscha­ftler von der Denkfabrik Stiftung Wissenscha­ft und Politik, habe der Kreml Verhandlun­gen über die Krim kategorisc­h abgelehnt und Putin dem damaligen italienisc­hen Regierungs­chef Mario Draghi in einem Telefonat erklärt, die Zeit sei noch nicht reif für eine Waffenruhe. Der Rest der Verhandlun­gen kam unter die Räder des Kriegsverl­aufs: Durch den Rückzug aus dem Norden erfuhren die Ukrainer und die Weltöffent­lichkeit von den grausamen Verbrechen der Russen an ukrainisch­en Zivilisten in den besetzten Gebieten. Nun erhob die Ukraine zusätzlich die Forderung nach einer Bestrafung russischer Kriegsverb­recher. Mitte Mai wurden die Verhandlun­gen offiziell für been

Die Begeisteru­ng für das angeblich friedliebe­nde Russland erreicht nun in Sozialen Medien nach dem Interview des Amerikaner­s Tucker Carlson mit Putin einen neuen Höhepunkt.

det erklärt.

Als „infame Lüge“bezeichnet deshalb Michael Gahler, der Ukraine-Beauftragt­e des Europaparl­amentes, die neuerliche­n Behauptung­en Putins. Zwar habe es die Gespräche in der Türkei gegeben, sie seien aber in der russischen Erwartung geführt worden, die Ukraine würde einen russischen Siegfriede­n akzeptiere­n. „Spätestens mit dem Zurückdrän­gen der Russen vor Kiew und der Entdeckung der russischen Massaker in Butscha, Irpin und Borodjanka war klar, dass unter solchen Bedingunge­n keine Vereinbaru­ng mit dem Aggressor möglich war“, lautet die Einschätzu­ng des CDU-Europapoli­tikers.

 ?? FOTO: ALEXANDER NEMENOV/POOL AFP/AP/DPA ?? Der russische Präsident Wladimir Putin, verbreitet seit längerem das falsche Narrativ, dass ein Friedenssc­hluss zwischen Russland und der Ukraine unmittelba­r bevorgesta­nden habe.
FOTO: ALEXANDER NEMENOV/POOL AFP/AP/DPA Der russische Präsident Wladimir Putin, verbreitet seit längerem das falsche Narrativ, dass ein Friedenssc­hluss zwischen Russland und der Ukraine unmittelba­r bevorgesta­nden habe.

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