Saarbruecker Zeitung

Die Mission einer verhindert­en Grenzgänge­rin

Außenminis­terin Annalena Baerbock unternimmt einen nächsten Anlauf für eine Vermittlun­g in Nahost. In Israel versucht die Grünen-Politikeri­n Möglichkei­ten einer Waffenruhe auszuloten. Ziel bleibt eine Zweistaate­nlösung. An einen Grenzüberg­ang zu Gaza lass

- VON HOLGER MÖHLE

Sind Zeltstädte sichere Korridore? Was überhaupt ist in diesen Zeiten im Gazastreif­en ein sicherer Korridor? Sollen die Menschen wieder nach Norden, von wo aus sie geflohen sind, weil im Süden von Gaza, in Rafah, die nächste israelisch­e Bodenoffen­sive ansteht? Annalena Baerbock hätte an diesem Mittwoch in Jerusalem gerne Antworten auf solche Fragen – von den Israelis, in diesem Fall von führenden Vertretern des Staates Israel. Von Israel Katz beispielsw­eise, ihrem Kollegen im Außenamt, den sie kurz nach der Ankunft gleich trifft. Unter Ausschluss der Öffentlich­keit, wie überhaupt vieles in diesen Tagen ohne Öffentlich­keit stattfinde­t, weil die israelisch­e Regierung sich nicht in die Karten gucken lassen möchte.

Baerbock kann von ihren Gesprächen in Jerusalem keine grundlegen­de Wende der israelisch­en Militärpol­itik in Gaza erwarten, aber vielleicht gelingt es ihr doch, zumindest eine große humanitäre Katastroph­e aufzuhalte­n. Irgendwo will sie einen Schalter finden, der auch auf israelisch­er Seite Bewegung in diese festgefahr­ene Lage bringt. „Gaza steht vor dem Kollaps. In Rafah harren auf engstem Raum 1,3 Millionen Menschen unter furchtbars­ten Bedingunge­n aus“, betont Baerbock. Tania Hary, geschäftsf­ührende Direktorin der israelisch­en Nichtregie­rungsorgan­isation „Gisha“(übersetzt: Zugang), die sich die Versorgung des Gazastreif­ens einsetzt, spricht aktuell von einem „logistisch­en Alptraum“. In Gaza fehle es nahezu an allem: Strom, Wasser, Medikament­e. 1,7 Millionen Menschen seien innerhalb des Gazastreif­ens vertrieben und inzwischen komplett von Hilfe von außen abhängig. „Ganz sicher, die Menschen dort hungern“, sagt Hary.

Wie also sieht es aus im Gazastreif­en? Einen für diesen Donnerstag zunächst geplanten Besuch von Baerbock am Grenzüberg­ang Kerem Shalom haben die Israelis kurzerhand abgesagt, so die Nachricht. Nicht einmal eine deutsche Außenminis­terin soll offenbar jene Grenze erleben, hinter der israelisch­e Truppen und Spezialkrä­fte nach dem 7. Oktober eingerückt sind, um Kämpfern und Führung der Terrormili­z Hamas jegliche Grundlage für künftigen

Terror zu entziehen, kurz: um die Hamas zu vernichten. Für die ausgefalle­ne Fahrt zum Grenzüberg­ang lassen sich leicht Sicherheit­sgründe anführen. Man könnte aber auch vermuten, die Staatsgäst­e aus dem Ausland sollen erst gar nicht erahnen, wie zerstört die gesamte Infrastruk­tur – Häuser, Straßen, Strom, Wasser – nach dem militärisc­hen Einmarsch Israels in Gaza wirklich ist. Auch US-Außenminis­ter Antony Blinken durfte das militärisc­he

Sperrgebie­t um den Grenzposte­n kürzlich nicht betreten und musste drinnen bleiben: in Israel.

Am Tag vor ihrem Abflug nach Israel hat die deutsche Chefdiplom­atin noch den Außenminis­ter der Palästinen­sischen Gebiete, Riad Malki, im Auswärtige­n Amt in Berlin empfangen. Sie weiß: Wer auf eine Vermittlun­gsmission geht, muss alle Seiten hören, weil gerade in Nahost, erst recht in dieser aufgeladen­en Situation zwischen Is

raelis und Palästinen­sern, alles mit allem zusammenge­hört. Baerbock ist jetzt bereits zum fünften Mal in Israel, seit Hamas-Milizen an jenem 7. Oktober vergangene­n Jahres bei ihren Nachbarn eingefalle­n sind und wahllos gemordet haben. Sie trifft dort erstmals seit diesem unheilvoll­en Oktober-Tag auch Ministerpr­äsident Benjamin Netanjahu. Die Grünen-Politikeri­n drängt auf eine humanitäre Feuerpause, weil ganz Gaza sich längst zu einem einzigen „Katastroph­engebiet“, ja, sogar zu einem „Epidemiege­biet“entwickelt habe, in dem sich wegen der zusammenge­brochenen Gesundheit­sversorgun­g Krankheite­n ausbreitet­en, wie Malki betont hat. Der Palästinen­ser hatte ihr noch auf den Weg mit nach Israel gegeben: „Wir wollen Garantien, dass diese Korridore sicher bleiben.“Er wünsche der deutschen Außenminis­terin „allen erdenklich­en Erfolg bei ihrem morgigen Besuch“, damit so viele Leben von Palästinen­sern wie möglich gerettet werden.

Baerbocks Rettungsve­rsuch ist ein Wettlauf gegen die Zeit – und eine Flüster-Mission. Bloß das richtige, das offene Ohr finden. Möglichst vor Ort sein, bevor Israel zur erwarteten Bodenoffen­sive auf die Flüchtling­shochburg Rafah bläst, wo Teile der Führung der Terrormili­z Hamas vermutete werden. Natürlich betont die Grünen-Politikeri­n weiter das Ziel einer Zwei-Staaten-Lösung, für die Bundesregi­erungen in Reihe eingetrete­n sind. Der Staat Israel existiert bereits. Ein Staat Palästina müsste erst noch entstehen und auch völkerrech­tlich anerkannt werden, weswegen die internatio­nale Diplomatie weiter von „Palästinen­sischen Gebieten“spricht: Gaza, Westjordan­land, Ost-Jerusalem. Doch die 1,3 Millionen Menschen, die sich derzeit in Rafah aufhalten, müssen irgendwohi­n, sollte die israelisch­e Armee tatsächlic­h hart zuschlagen. Rafah liegt an der Grenze zu Ägypten, und diese Grenze ist zu. Sie könnten nach Norden, doch große Teile des Nordens von Gaza sind zerstört. Der Raum ist eng, die Zeit ist knapp, und Baerbock kann die Zeit nicht anhalten.

Baerbocks Rettungsve­rsuch ist ein Wettlauf gegen die Zeit.

 ?? FOTO: BERND VON JUTRCZENKA/DPA ?? Außenminis­terin Annalena Baerbock (Grüne) traf am Mittwoch in Jerusalem erstmals seit den Angriffen der Hamas Anfang Oktober Israels Ministerpr­äsidenten Benjamin Netanjahu.
FOTO: BERND VON JUTRCZENKA/DPA Außenminis­terin Annalena Baerbock (Grüne) traf am Mittwoch in Jerusalem erstmals seit den Angriffen der Hamas Anfang Oktober Israels Ministerpr­äsidenten Benjamin Netanjahu.

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